Georgette Heyer
allein in den Parks spazieren; und kaum hatte
sie entdeckt, daß ihre Tante historische Denkmäler nur äußerst widerstrebend
besuchte und sich für keine anderen Bilder interessierte als solche, die von
Modemalern gemalt wurden, machte sie es sich schon zur schrecklichen
Gewohnheit, nachmittags, während Mrs. Hendred durch ein friedliches Nickerchen
auf ihrem Bett wieder ihre Kräfte sammelte, aufzubrechen und in einer Droschke
zur Westminsterabtei oder zum Tower oder sogar zum Britischen Museum zu
fahren.
«Was, von anderen Überlegungen ganz
abgesehen, genügt», sagte Mrs. Hendred tragisch, «daß dich jeder für einen
Blaustrumpf hält! Und etwas Fataleres gibt es einfach nicht!»
Dieses Gespräch fand beim
Mittagstisch statt, und Venetia, die höchst erstaunt die außerordentlichen
Grimassen beobachtete, die ihre Tante jedesmal zog, wenn sie einen Schluck Wein
nahm, rief aus: «Meine liebste Ma'am, sind Sie auch sicher, daß mit dem Sherry,
den Sie da trinken, alles in Ordnung ist?»
Während sie noch sprach, fiel ihr Blick
zufällig auf den Butler. Er war ein Individuum mit steinernem Gesicht, aber bei
Venetias Worten zuckte es verräterisch. Dieses Phänomen erklärte sich unverzüglich,
als Mrs. Hendred mit einem tiefen Seufzer sagte: «Kein Sherry, Liebste –
Essig!»
«Essig?!» wiederholte Venetia
ungläubig.
«Ja», nickte ihre Tante und
betrachtete das Glas verzweifelt. «Bradpole mußte mein Lavendelfarbenes
auslassen – das mit dem französischen Leibchen und der Schleppe mit dem
französischen Doppelbesatz und dem Spitzennetz rund um den Hals herum – gleich
um zwei Zoll! Ich muß abnehmen, und da geht nichts über Essig. Essig und
Zwieback. Byron lebte auch bei Diät, weißt du, weil er sehr stark dazu neigte,
anzusetzen, und auf diese Weise hielt er sich in Form.»
«Ich staune, daß er sich damit nicht
umgebracht hat! Tante, er kann sich doch unmöglich von einer solchen Diät
ernährt haben!»
«Man sollte es wirklich nicht für
möglich halten», stimmte ihr Mrs. Hendred zu, «aber das hat mir Rogers bestimmt
erzählt. Gleich das erste Mal, als er mit Rogers speiste, wollte er nicht von
dem nehmen, was man ihm vorsetzte, sondern aß nur harten Zwieback – oder waren
es Kartoffeln? Ich bin in dem Punkt nicht ganz sicher, aber ich weiß, daß er
Essig dazu trank.»
«Doch nicht trank!» protestierte
Venetia.
«Na ja, essen konnte er ihn doch
wohl nicht, also muß er ihn einfach getrunken haben!» erklärte Mrs. Hendred
sehr verständig.
«Vielleicht hat er ihn über sein
Essen gegossen. Er wäre doch entsetzlich krank geworden, wenn er ihn gläserweise
getrunken hätte!»
«Meinst du, daß ich das tun soll?»
fragte Mrs. Hendred und betrachtete etwas zweifelnd die Fruchtlikörcreme auf
ihrem Teller.
«Das meine ich bestimmt nicht!»
sagte Venetia lachend. «Ich bitte Sie sehr, lassen Sie doch Worting das Zeug
wegnehmen, liebste Ma'am!»
«Ich muß ja sagen, ich glaube auch,
daß es diese Creme ganz verderben würde. Vielleicht genügt es auch, wenn ich
lieber ein Stück Zwieback dazu esse. Worting, Sie können mir noch von der Creme
nachservieren und dann können Sie gehen, denn ich brauche nichts mehr, außer
den Makronen, und die können Sie auf dem Tisch stehen lassen. Meine Liebste,
du solltest eine nehmen, denn sie sind ausnehmend gut, und du hast kaum einen
Bissen gegessen!»
Um ihr den Gefallen zu tun, nahm
Venetia eine Makrone und knabberte an ihr, während sich ihre Tante wieder der
Aufgabe zuwandte, sie zu überzeugen, daß junge Damen der guten Gesellschaft
niemals einsame Ausflüge unternehmen dürfen. Venetia ließ sie in ihrer
sprunghaften Art weiterreden, denn sie konnte ihr nicht sagen, daß sie
Sehenswürdigkeiten ja nur in dem hartnäckigen Versuch besuchte, ihren Geist zu
beschäftigen, ebensowenig wie sie ihr sagen konnte, daß sie nie allein war.
Denn immer ging ein Geist neben ihr einher, unhörbar und unsichtbar, und
trotzdem so lebendig, daß sie manchmal das Gefühl hatte, sie brauchte nur die
Hand auszustrecken und würde die seine finden.
«Und es ist ja so besonders wichtig,
meine Liebste, daß gerade du dich mit dem alleräußersten Anstand benimmst!» fuhr
Mrs. Hendred fort.
«Warum?» fragte Venetia.
«Jede unverheiratete Dame muß das
doch tun, und in deiner Situation, Venetia, kannst du nicht sorgfältig genug
darauf achten, was du tust! Meine Liebe, wenn du die Welt kennen würdest wie
ich, was man von dir natürlich nicht erwarten kann, und
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