Georgette Heyer
dringenden
Flehens in Imbers Stimme nicht, sondern ging schnell die Halle hinunter zum
Speisezimmer. Sie öffnete die Tür, betrat das Zimmer und blieb einen
Augenblick zögernd auf der Schwelle stehen, weil sie plötzlich bei aller
Sehnsucht, ihren Liebsten wiederzusehen, Beklommenheit spürte.
Den ganzen Weg nordwärts hatte sie
sich diese Begegnung ausgemalt, sich gefragt, was Damerel wohl sagen und wie
er dreinschauen und was sie ihm sagen würde. Es wäre ihr nicht eingefallen,
daß er weder mit ihr sprechen noch sie anschauen würde, oder daß ihre Begegnung
in der Wirklichkeit so völlig anders ausfallen würde, als sie es sich in der
Phantasie ausgemalt hatte.
Er war allein, lümmelte in dem
geschnitzten Armstuhl am Kopfende des Tisches, der eine Arm lag auf der
Platte, und seine Finger hielten den Stiel eines Weinglases umklammert. Die
Tischdecke war schon entfernt worden, und neben seinem Ellbogen stand eine
halbgeleerte Karaffe, der Stöpsel daneben. Damerel war schon immer
gleichgültig gegen seine Erscheinung gewesen, aber noch nie hatte Venetia ihn
derart unordentlich gesehen. Das Halstuch hatte er gelockert, die Weste hing
offen, und sein schwarzes Haar sah aus, als wäre er in einen Sturm geraten. Er
saß unbeweglich da, die Schultern gegen die hohe Rückenlehne gedrückt, die
Beine lang von sich gestreckt, und sein brütender Blick war starr ins Leere gerichtet.
Die harten Linien in seinem Gesicht schienen sich verschärft zu haben, und sein
Hohnlächeln war noch stärker betont. Als Venetia leise in das Kerzenlicht
vortrat, wandte er ihr endlich die Augen zu und schaute sie an. Sie blieb
stehen, mit einem Lächeln, in dem sich Schüchternheit, Spitzbüberei und die
Spur einer Frage mischten. Er starrte sie verständnislos an, und dann hob er
zu ihrem Schrecken die Hand zu den Augen, um sie nicht sehen zu müssen, und
stieß mit einer verquollenen Stimme voll Abwehr hervor: «O Gott! Nein!!»
Diese völlig unerwartete Reaktion
auf ihre Ankunft hätte Venetia vielleicht sehr eingeschüchtert, aber da sie
inzwischen erkannt hatte, daß Seine Lordschaft – sozusagen – äußerst blau war,
war sie nicht entsetzt, sondern sogar ziemlich amüsiert. Sie rief aus: «O
Damerel, mußt du wirklich ausgerechnet in diesem Augenblick angesäuselt sein?
Wie gräßlich du doch bist, mein lieber Freund!»
Er ließ die Hand sinken; einen
Augenblick lang schaute er sie ungläubig an, dann war er
aufgesprungen und hatte dabei das Weinglas umgestoßen. «Venetia!» stieß er
hervor. «Venetia!!»
Zwei hastige, unsichere Schritte
brachten ihn um den Tisch herum; sie ging auf ihn zu und schmiegte sich in
seine Arme, als er sie packte.
Er hielt sie in einer erdrückenden
Umarmung, küßte sie wild und brachte nur unzusammenhängend heraus: «Meine
Geliebte – mein Herz – oh, mein liebes Entzücken! Du bist es wirklich!»
Sie hatte einen Arm um seinen Hals
geschlungen, und als er den Kopf hob, um ihr Gesicht mit den Augen zu
verschlingen, strich sie ihm zärtlich die zerzauste Haarlocke aus der Stirn.
Was immer für Zweifel oder Ängste sie bestürmt haben mochten, sie waren
verschwunden. Sie lächelte liebevoll zu ihm auf und sagte – das Wort wurde zu
einer Liebkosung –: «Du Dummer!»
Er lachte, und es klang wie ein
Stöhnen, küßte sie wieder, und seine Arme drückten sie so fest an sich, daß sie
kaum atmen konnte. Dann schien er sich etwas zu besinnen, lockerte die
Umarmung und rief mit schwankender Stimme aus: «Ich muß ja geradezu nach Brandy
stinken!»
«Tust du!» sagte sie aufrichtig.
«Macht nichts. Ich bin überzeugt, ich werde mich bald daran gewöhnen.»
Er ließ sie los und preßte die Hände
gegen die Augen. «Hölle und Teufel! Ich bin voll – besoffen wie ein
Droschkenkutscher! Ich kann nicht ...» Er ließ die Hände sinken und verlangte
fast zornig zu wissen: «Was hat dich hergebracht? O Gott, warum bist du
gekommen?»
«Die Postkutsche hat mich
hergebracht, Liebster, und warum, erzähle ich dir gleich. Oh, mein lieber
Freund, ich habe dir ja so viel zu erzählen! Aber zuerst müssen wir die Kutsche
bezahlen. Imber scheint kein Geld zu haben, willst du ihm daher deine Börse
geben, bitte?»
«Was für eine Kutsche?»
«Die ich in York gemietet habe, um
mich herzubringen. Ich hatte nicht mehr genug Geld – ja, ich bin ganz blank
und muß jetzt dir auf der Tasche liegen! Damerel, geh, bitte, gib mir deine Börse!»
Er fuhr mechanisch mit der Hand in
die Tasche, aber anscheinend
Weitere Kostenlose Bücher