Georgette Heyer
Ihrer Sinne, Sir? Es ist doch
kaum möglich, daß Sie mich heiraten wollen?»
«Natürlich
will ich nicht!» sagte er ungeduldig. «Ich kenne Sie doch kaum. Aber ich weiß
immerhin, was sich gehört. Ich habe zwar eine Menge Laster, aber unschuldige
Mädchen zu entführen, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen – das liegt mir
nicht. Bitte seien Sie vernünftig, Madam! Sie sind mit mir durchgebrannt,
nicht ohne Ihre Mutter von Ihrem Vorhaben in Kenntnis zu setzen; wenn ich Sie
jetzt gehen lasse, können Sie frühestens morgen abend wieder zu Hause sein. Bis
dahin ist Ihre ganze Verwandtschaft über Ihr Benehmen im Bilde – oder ich müßte
mich in Ihrer Mutter und Ihrer Schwester sehr täuschen. Ihr Ruf wird so
beschmutzt sein, daß kein Mensch Sie mehr empfangen wird. Und das, Madam, soll
auf mein Konto gehen! Ich sage Ihnen klipp und klar, ich lege keinen Wert
darauf, daß die Leute mit Fingern auf mich zeigen.»
Miss
Challoner preßte eine Hand an die Stirn. «Soll ich Sie heiraten, um mein
Gesicht zu wahren oder Ihres?» fragte sie.
«Sowohl das
eine als auch das andere», antwortete Seine Lordschaft. Sie schaute ihn einen
Augenblick zweifelnd an. «Mylord, ich fürchte, ich bin zu müde, um noch klar
denken zu können», seufzte sie.
«Dann gehen
Sie am besten zu Bett», sagte er. Er faßte sie um die Schultern und blickte
stumm auf sie nieder. Sie betrachtete ihn freimütig und fragte sich, was jetzt
nun wieder kam. «Seien Sie nicht so verzagt, meine Liebe», sagte er zu ihrer
Überraschung. «Sie sitzen zwar ganz schön in der Tinte, aber ich werde nicht
zulassen, daß Ihnen irgendein Schaden daraus erwächst. Gute Nacht.»
Unbegreiflicherweise
stiegen ihr plötzlich die Tränen in die Augen. Sie trat einen Schritt zurück
und machte ihm einen Knicks. «Danke», sagte sie mit zitternder Stimme. «Gute
Nacht, Mylord.»
8
Obwohl Miss Challoner über Müdigkeit
geklagt hatte, schlief sie noch lange nicht ein. Die halbe Nacht zermarterte
sie sich den Kopf über ihre verzweifelte Lage, und erst als es ihr gelang, sich
zu einer Art Entschluß durchzuringen, fand sie endlich Ruhe.
Sie war
entsetzt, als sie merkte, daß sie sich, wenn auch nur einen atemberaubenden
Moment lang, ausmalte, mit Seiner Lordschaft ver heiratet zu sein, und Sophias
Existenz dabei völlig vergaß. «So, das ist also die Wahrheit!» wies sich Miss
Challoner in Gedanken streng zurecht. «Du bist verliebt in ihn, und das weißt
du nicht erst seit heute.»
Aber es war
nicht der berüchtigte Marquis, der ihr Herz erobert hatte; es war der wilde,
launische, widerspenstige Junge, den sie hinter der Maske des Lebemanns sah.
«Ich könnte
ihn bändigen», seufzte sie. «O ja, ich könnte es!»
Sie
erlaubte sich nicht, lange in diesem Traum zu schwelgen. Eine Heirat kam auf
keinen Fall in Frage. Vidal machte sich schließlich nicht das geringste aus
ihr. Wenn die Zeit dafür gekommen war, würde er irgendeine affektierte Gans
aus seinen eigenen Kreisen zur Frau nehmen – aber diese Überlegungen spielten
im Grunde eine untergeordnete Rolle. Das größte Hindernis war, daß sie doch
unmöglich Sophia einen Bräutigam unter der Nase wegschnappen konnte.
Nachdem sie
somit das Seine Lordschaft betreffende Problem gelöst hatte, machte sie sich
resolut daran, über ihre eigene Zukunft nachzudenken. Vidal hatte ihr erklärt,
warum sie den Plan an eine Rückkehr nach Bloomsbury aufgeben mußte; ebensowenig
durfte sie hoffen, bei ihrem Großvater Zuflucht zu finden. Sie grübelte eine
Weile düster darüber nach, was es doch für ein komisches Gefühl war, plötzlich
ganz allein auf der Welt zu stehen, dann trocknete sie sich die Augen und
überlegte nüchtern, was sie jetzt am besten anfangen sollte.
Ihre für
eine Frau höchst ungewöhnliche Vernunft bewog sie nach zwei Stunden zu der
Entscheidung, daß es das klügste wäre, in Frankreich zu bleiben, einen neuen
Namen anzunehmen und sich in einem angesehenen französischen Haushalt eine
Stelle als Gouvernante zu suchen.
Dann begann
sie, einen Brief an ihre Mutter zu schreiben, bis sie mitten in einem seltsam
verworrenen Satz endlich einschlief.
Am nächsten
Morgen verzehrte sie noch im Bett ein Brioche und eine Tasse heiße Schokolade
zum Frühstück, und als sie sich nach einiger Zeit in den Privatsalon
hinunterbegab, erwartete sie dort der diskrete Fletcher, um sie nicht ohne
einen Anflug von Strenge davon in Kenntnis zu setzen, daß der Arm Seiner
Lordschaft während der Nacht
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