Georgette Heyer
Gnaden.
«Und falls du nicht willst, daß ich dich ermorde, mon enfant, verlieren
wir jetzt kein Wort mehr über Vidal oder Rupert oder sonst irgendein Thema.»
Ein paar
Stunden später erreichte das streitbare Paar, das einander nun mit
übertriebener Höflichkeit behandelte, Lady Fannys Haus in London. Es war
Dinnerzeit, und Mylady wollte sich eben zu einem einsamen Mahl setzen, als die
Herzogin eilig das Speisezimmer betrat.
«Oh, mein
armer Liebling!» rief Fanny und schloß sie in die Arme. «Dem Himmel sei Dank,
daß du gekommen bist! Es ist alles leider nur zu wahr!»
Léonie warf
achtlos ihren Mantel ab. «Sag mir sofort, Fanny – hat er sie entführt? Hat er
sie tatsächlich entführt?»
«Ja»,
versicherte Fanny, «ich fürchte doch. Dieses gräßliche Weib war heute wieder
hier, und ich habe das Gefühl, sie meint ihre Drohungen wirklich ernst. Das
heißt also, sie wird äußerst unangenehm werden, wenn wir ihr nicht ein
entsprechendes Trostpflaster auflegen. Ich habe zwar sofort daran gedacht, aber
ich weiß beim besten Willen nicht, wie wir das schaffen sollen, außer du hast
eine große Menge Geld zur Verfügung, denn ich bin leider arm wie eine
Kirchenmaus. Meiner Treu, ich könnte Vidal umbringen! Was für eine
Gedankenlosigkeit, sich an einem anständigen Mädchen die Finger zu verbrennen –
obwohl ich dieses Märchen von der angeblichen Tugend ja bei Gott nicht glaube,
Léonie. Die Mutter ist der hinterhältigste Drachen, der mir je untergekommen
ist, aber stell dir vor, sie hat heute die andere Schwester mitgebracht, und
das ist eigentlich der Grund, warum ich fast geneigt bin, ihre lächerliche
Geschichte zu glauben, obwohl ich davon überzeugt bin, daß sie zum Großteil einen
Haufen Lügen erzählt. Das Mädchen ist einfach bezaubernd, und weißt du, daß
sie mich ein wenig daran erinnert, wie ich in ihrem Alter war? Ein Blick hat
genügt, um mir klarzumachen, daß es nur zu begreiflich wäre, wenn Vidal in sie
verliebt ist.» Sie verstummte, als der Diener eintrat, um noch zwei Gedecke
aufzulegen, und bat Léonie, Platz zu nehmen. Da jede weitere Erörterung dieses
Themas in Gegenwart des Lakaien unmöglich war, widmete Mylady sich dem neuesten
Klatsch und richtete sogar, nur um die Konversation aufrechtzuerhalten, an
ihren Sohn die freundliche Frage, ob er nicht Lust hätte, heute abend in die
Royal Society zu gehen. John ließ sich zu keiner Antwort herab, sondern
erklärte den beiden Damen nach dem Dinner, daß er ihrem Wunsch, die Royal
Society zu besuchen, leider nicht nachkommen könne, sich aber statt dessen mit
einem Buch in die Bibliothek zurückziehen wolle.
Sobald sie
mit Léonie oben in ihrem verschwiegenen Boudoir saß, berichtete Fanny ihrer
Schwägerin den Rest der Geschichte. Sie sagte, Sophia Challoner hätte zwar kaum
ihren kleinen Schmollmund aufgemacht, doch sie, Fanny, könnte schwören, die
Kleine sei wütend, daß sie um Vidal betrogen worden war. «Ein berechnendes
kleines Biest, meine Liebe! Oh, glaub mir, dafür habe ich ein untrügliches
Gefühl! Wenn die Schwester ihr ähnlich ist – und wie sollte es anders sein –,
hat man Vidal schrecklich hereingelegt. Jetzt besteht kein Zweifel mehr, daß er
sie nach Frankreich mitgenommen hat, denn wenn das nicht der Fall war, wo ist
sie dann? Was sollen wir tun?»
«Ich fahre
nach Paris», sagte Léonie. «Aber zuerst will ich mit dieser Mrs. Challoner
sprechen. Dann werde ich Rupert erklären, daß er mich nach Frankreich begleiten
muß. Wenn das alles stimmt und das Mädchen keine – keine – wie heißt das doch
gleich?»
«Sei
beruhigt, Liebste, ich weiß, was du meinst», antwortete Lady Fanny hastig.
«Nun, also
wenn sie nicht ist, was wir befürchten, muß ich versuchen, Dominique zur
Heirat zu überreden, denn dann ist es wirklich nicht convenable, daß er
sie ruiniert. Außerdem tut sie mir leid», fügte Léonie ernst hinzu. «Glaub mir,
so ganz allein und verlassen zu sein und außerdem jemand hilflos ausgeliefert,
das ist sehr hart, das weiß ich aus Erfahrung.»
«Die Mutter
wird sicher keine Ruhe geben, bis sie Vidal nicht zur Strecke gebracht hat,
aber hast du schon an Justin gedacht, Léonie? Damit will ich unter gar keinen
Umständen etwas zu tun haben. Du weißt ja, er kann entsetzlich unangenehm
werden.»
«Natürlich
habe ich mir das überlegt. Es fällt mir zwar unendlich schwer, aber diesmal
kann ich ihm nicht die Wahrheit sagen. Wenn Dominique dieses Mädchen heiraten
muß, wird mir nichts
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