Georgette Heyer
beschwören, nein, das kann
ich wahrhaftig nicht. Die junge Dame, die hierherkam und nach Mr. Allandale
fragte, sagte zu Mrs. Shotwick – das ist meine Frau –, sie wäre mit ihm
verlobt. Und das ist ein himmelweiter Unterschied.»
«Ja, ja.
Aber das ist schon die richtige Dame, die ich zu sprechen wünsche», sagte NeIl.
«Mhm!»
machte Mr. Shotwick und streichelte weiterhin sein Kinn. «Ich habe natürlich
nichts dagegen, Ma'am, die Frage ist nur, ob es Ihnen gelingen wird? Weil sie
nämlich nicht hier ist. Sie ist schon länger als drei Stunden nicht mehr hier.
Und darüber bin ich sehr froh, wegen alldem Radau, der sich hier abspielte.»
«O Himmel»,
sagte Nell, völlig entmutigt. «Was ... was für ein Radau?»
«Nein,
verwünscht, Cousine ...» widersprach Mr. Hethersett, zu diesem Zeitpunkt
bereits im Zustande tiefsten Mißbehagens.
Doch jetzt
kam Mr. Shotwick auf die glückliche Idee, sie zu bitten, in das Haus
einzutreten, um diese heikle Angelegenheit mit der Herrin des Hauses zu
erörtern. Nell stimmte bereitwillig zu, Mr. Hethersett allerdings weniger
bereitwillig. Sie wurden in das rechts von der Haustür befindliche Wohnzimmer
Mr. Allandales geführt, worauf Mr. Shotwick von dannen eilte, um seine Frau
herbeizuholen.
«Ach,
Felix, was kann bloß geschehen sein?» fragte Nell. «Sie ist bereits vor mehr
als drei Stunden weggegangen. Als der Mann sagte, daß sie nicht hier sind,
dachte ich zuerst, Mr. Allandale hätte Letty vielleicht nach Hause gebracht und
ich würde sie bei meiner Rückkunft dort finden. Aber vor mehr als drei Stunden!
Wo kann sie bloß sein, wenn sie nicht gemeinsam durchgebrannt sind?»
«Ich habe
keine Ahnung, wo sie sein könnte», meinte Mr. Hethersett. «Ich weiß aber, wo wir sind, und ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden. Verwünscht..,
ich bin überzeugt, der Bursche weiß genau, wer ich bin, und als nächstes werden
wir erfahren, daß er herausbekommen hat, wer Sie sind. Und dann wird es im Nu
in der ganzen Stadt bekannt sein.»
«Nun, wenn
es Ihnen so unangenehm ist, in meiner Gesellschaft gesehen zu werden, können
Sie sich ja ruhig entfernen», sagte Nell erzürnt.
«Das werde
ich nicht», sagte Mr. Hethersett unerschüttert. «Besonders, da Sie nicht
einmal korrekt für den Abend gekleidet sind. Schickt sich keineswegs: sieht
verwünscht merkwürdig aus! Alle Spötter werden sich fragen, was zum Teufel wir
hier zu suchen haben. Kann ihnen nicht sagen, daß wir überall nach Letty
suchen.»
Trotz ihrer
Besorgnis mußte Nell über ihn lachen. Sie sagte mutwillig: «Es ist bestimmt
sehr arg, aber Sie haben einen so guten Ruf, daß niemand auch nur einen
Augenblick annehmen würde, Sie könnten etwas tun, das nicht zum guten Ton
gehört.»
«Mein liebe
Lady Cardross, das ist nicht der richtige Moment, um zu scherzen. Man kann nie
wissen, wieviel die Leute zu glauben bereit sind. Die Sache ist die, wir haben
den einzigen Weg gewählt, um es überall so rasch wie möglich bekanntzumachen,
daß das unglückliche Mädchen weit über die Grenzen des Erlaubten gegangen ist.
Außerdem wird Cardross vor Wut toben, weil wir beide uns so dumm angestellt
haben, anstatt ihm mitzuteilen, was sich ereignet hat.»
Nell hatte
das bedrückende Gefühl, daß dies tatsächlich wahr sein könnte, doch ehe sie zu
erwidern vermochte, kehrte Mr. Shotwick zurück, gefolgt von einer umfangreichen
Dame in einer Morgenhaube, die er als seine Frau vorstellte.
Der reichlich
komplizierten Geschichte, die den Lippen von Mrs. Shotwick entströmte, war zu
entnehmen, daß Lettys Einbruch in ihre bislang so wohlgeordnete Existenz ihren
Verstand ebenso in Verwirrung gebracht wie ihr Vertrauen in ihren
Lieblingsmieter erschüttert hatte. «Denn um Sie nicht hinters Licht zu führen,
Ma'am, ich weiß nicht, was ich mir denken soll, ich will es auch nicht wissen!»
Nachdem sie
von ihrem Ehegatten erfahren mußte, daß eine schöne junge Dame, die einen
Mantelsack mitgebracht hatte, von dem Wohnzimmer Mr. Allandales in der
ausdrücklichen Absicht, hier zu bleiben, bis er in seine Wohnung zurückkehrte,
Besitz ergriffen, war ihre erste Regung gewesen, ein so keckes Frauenzimmer
unverzüglich hinauszuweisen. Doch als sie in das Zimmer gesegelt kam, um
diesen Wunsch in die Tat
umzusetzen, hatte sie sich denn doch zurückgehalten, denn sie erblickte eine
vornehme junge Dame, und man wies Damen der vornehmen Welt nicht aus dem Haus,
wie sehr man auch auf seine Wohlanständigkeit bedacht war.
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