Georgette Heyer
behauptete Selina. «Wenn du ihn dazu brächtest, könntest du
mir ein Billett aus dem Fenster zuwerfen, das ich Mr.
Allandale unverzüglich übergeben würde. Er würde sich dann natürlich
verpflichtet fühlen, dich zu retten, und dann könntet ihr über die Grenze
fliehen.»
«Das kommt
nur in Romanen vor», sagte Letty erbittert, «ich möchte nur sehen, wie mich
Jeremy retten sollte! Er könnte das Haus nicht einmal betreten, ohne zu
klopfen, und was sollte er dem Türsteher sagen?»
«Vermutlich
befindet sich in eurem Haus kein geheimer Gang?» fragte Selina ziemlich
entmutigt.
«Natürlich
nicht. Die gibt es nur in uralten Schlössern.»
«Nein, das
ist nicht wahr», rief Selina triumphierend. «Denn ich selbst habe in einem ganz
gewöhnlichen Haus einen Geheimgang gesehen. Ich erinnere mich nicht genau, wo
es war, ich weiß nur, daß ich ihn sah, als Mama mit Fanny und mir nach Somerset
fuhr, um meinem Onkel einen Besuch zu machen.»
«Es spielt
auch keine Rolle, wo es war, denn auf Grosvenor Square gibt es eben keinen
Geheimgang.»
«Nein»,
sagte Selina sehr betrübt. Sie hatte eine andre Idee, aber obwohl ihre Augen
einen Moment aufleuchteten, verdüsterten sie sich wieder bei dem Gedanken, daß
Mr. Allandale kaum bereit wäre, sich in der Verkleidung eines Kaminfegers in
dem Palais Cardross Einlaß zu verschaffen.
«Und
überhaupt», sagte Letty und beendete damit die Diskussion, «werden alle
Dachkammern von unserer Dienerschaft bewohnt. Ich wäre sehr froh, wenn du
endlich mit diesem Blödsinn aufhörtest, du dumme Gans!»
«Das ist
kein Blödsinn! Du dachtest nicht so, als wir die herrliche Geschichte von dem
jungen Mädchen lasen, das von ihrem Onkel eingesperrt wurde, um damit ihre
Zustimmung zu einer Heirat mit seinem Sohn zu erpressen – ich meine den mit der
schurkischen Miene und den beiden wilden Bulldoggen und ...»
«Ach,
Bücher!» rief Letty ungeduldig. «Das hier ist Wirklichkeit!»
8
Letty verbrachte den ganzen Tag auf dem
Bryanston Square, zur Freude von Mrs. Thorne, die sie, nachdem sie von einer
ausgedehnten Einkaufsexpedition mit Fanny zurückgekehrt war, herzlich umarmte.
Sie hatten beabsichtigt, sich Seiden und Musseline für Fannys Trousseau
vorlegen zu lassen. Obwohl diese Tour durch die Warenhäuser bloß ein vorläufiges
Scharmützel gewesen war, hatten sie doch so viel eingekauft und so viele
Stoffmuster mitgebracht, um sie in Ruhe betrachten zu können, daß während
Lettys Anwesenheit nur noch über sehr wenig anderes gesprochen wurde. Mrs.
Thorne bemerkte wohl, daß Letty in ziemlich gedrückter Stimmung war, schrieb
dies jedoch einer Laune zu, die sie nicht weiter beachtete.
Beklagenswerterweise erwähnte sie in nicht sehr glücklich gewählter Form, sie
hätte nicht erwartet – wiewohl Fanny um drei Jahre älter war –, daß diese vor
ihrer Cousine Letty heiraten würde.
Inzwischen
verbrachte Nell einen ebenso untadeligen wie langweiligen Tag.
Sitzende Beschäftigungen, wie Netzen, Spitzenzusammensetzen, Fransenknüpfen
oder eine Patience zu einem erfolgreichen Ende zu bringen – diese neue Form des
Zeitvertreibs, welche ihr der Prinzregent huldvollst persönlich erklärt hatte
–, ließen ihren Gedanken zuviel Spielraum, um sich mit ihren Sorgen
abzuquälen. Sie begann sehr bald zu bedauern, es abgelehnt zu haben, selbst an
einer so harmlosen Unterhaltung teilzunehmen, wie es die Einstudierung eines
französischen Ländlers für eine exklusive Matinee war. Im allgemeinen schien
sie nie genug Zeit zu haben, um ihren vielen Verpflichtungen nachzukommen,
denn erstens bot die in vollem Gange befindliche Saison jede Art der
Unterhaltung, angefangen von einem venezianischen Frühstück bis zu einem großen
Ballonaufstieg. In den kurzen Intervallen überließ sie sich entweder den Zauberkünsten
Mr. Blakes, welcher eine lächerliche Gekkenhaftigkeit mit einer wahrhaft
genialen Kunstfertigkeit verband, den Damen das Haar zu schneiden. Oder sie saß
Mr. Lawrence zu ihrem Porträt. Cardross hatte ein lebensgroßes Porträt seiner
bezaubernden jungen Frau in Auftrag gegeben, und da Lawrence, seit Hoppners
Tod, der begehrteste Porträtist Englands war, würde es ihn keinen Penny weniger
als vierhundert Guineen kosten. Aber Mr. Blake hatte für sie erst vor einer
Woche einen smarten neuen Haarschnitt kreiert, und die Sitzungen bei Mr.
Lawrence mußten verschoben werden, bis der Künstler von einer Indisposition
völlig wiederhergestellt war. Sie hatte auch keine Lust
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