Gepeinigt
ihre Karriere nachteilig beeinflussen würden. Nun kamen bereits die Vertreterinnen der Generation Y zum Zug, und sie fragte sich, ob Beruf und Karriere wirklich das Wichtigste im Leben waren.
War die Gesellschaft daran schuld, die das Bild einer Frau entwarf, die Karriere und Privatleben scheinbar mühelos unter einen Hut brachte, oder musste sie sich selbst die Schuld geben, weil sie sich so nach Lob und Anerkennung sehnte? Doch eins war sicher: Sie hatte niemanden, den sie bedingungslos lieben konnte und der sie wiederum ohne Vorbehalte liebte. Und Fälle wie der von Lucy Roth machten ihr eigenes Dilemma nur noch deutlicher. Sie hätte natürlich ein Kind adoptieren oder sich einfach von irgendeinem Mann schwängern lassen können, aber solche Gedanken machten ihr das Herz nicht leichter und befreiten sie nicht von dem Kummer, dass sie es versäumt hatte, gemeinsam mit einem liebevollen Mann eine Familie zu gründen.
Und so hatte sich das Ganze zu einem Teufelskreis entwickelt: Um nicht in Depressionen zu verfallen, stürzte sie sich in ihre Arbeit und bezog ihre Lebensfreude aus den mentalen Herausforderungen. Und die gröÃte Freude bestand natürlich
darin, Leben zu retten. Die kleine Lucy Roth hatte sie zwar nicht vor dem Tod bewahrt, ihr jedoch zumindest weitere fürchterliche Schmerzen und Misshandlungen erspart.
Sie erschauderte, strich sich erneut den Pony aus der Stirn und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den StraÃenverkehr.
Sie war froh, dass sie dem Gewitter entgangen war. Als sie ankam, parkte sie so nahe wie möglich am Eingang, nahm ihre Handtasche und eilte zur Notaufnahme, die sie durch den Vordereingang betrat, was so gut wie nie vorkam. Aber erst um das Gebäude herum zum Hintereingang zu laufen war Zeitverschwendung. Und weil sie diesen Bereich so selten betrat, nahm sie dessen Einrichtung mit Ãberraschung zur Kenntnis. Sie hatte völlig vergessen, wie es hier aussah. Obwohl, oder vielleicht auch, weil dieser Trakt relativ neu war, hatte man alles in neutralen Farben gehalten. An den Wänden standen unbequeme Plastikstühle, von denen an diesem Nachmittag etwa die Hälfte besetzt war.
Margot durchquerte mit forschen Schritten den Raum und verschwand rasch im Personal eingang. Sie mied die Blicke der Wartenden, da sie ihr sonst nur leidgetan hätten â Opfer einer chaotischen Krankenhausbürokratie. Dann hätte sie bloà wieder den ganzen Nachmittag in der Notaufnahme ausgeholfen, anstatt sich um ihre eigene Arbeit zu kümmern. Und da sie bereits eine Achtzig-Stunden-Woche hinter sich hatte und bereits jetzt am Montag erschöpft war, wäre dies keine gute Idee gewesen.
Stefanie Phillips, eine groÃe schlanke Frau Anfang dreiÃig, erwartete Margot bereits.
»Gott sei Dank, dass Sie da sind. Sie ist ziemlich nervös«, teilte sie der Ãrztin in gedämpftem Ton mit. »Ich weià nicht, wie lange ich sie noch hier festhalten kann.«
»Okay, Stefanie, ich zieh mir nur rasch einen Kittel an. Wo ist sie?«
»U 3. Ich habe schon alles für die Untersuchung vorbereitet. Soll ich assistieren?«
»Lassen Sie mich zuerst mal mit ihr reden. Aber bleiben Sie in der Nähe, nur für den Fall, dass ich Sie brauche. Was ist mit der Polizei?«
»Die haben sich bis jetzt nicht blicken lassen. Sie scheint direkt hierhergekommen zu sein. Aber ich habe angerufen. Man will jemanden vorbeischicken, der Beweisfotos macht.«
»Rufen Sie bitte noch mal an, Stefanie. Fragen Sie nach, wann genau jemand kommt. Das Opfer hat lange genug gewartet.«
Margot schenkte der Schwester ein schiefes Lächeln, was diese auf ähnliche Weise erwiderte. Untersuchungen von Vergewaltigungsopfern waren für keinen Beteiligten einfach, aber es lag nun einmal in Margots Natur, Partei für die Opfer zu ergreifen. Und ihre Patienten spürten das und vertrauten ihr deshalb. Margot suchte sich einen sauberen weiÃen Kittel und ging rasch zum Untersuchungszimmer Nummer drei, das glücklicherweise auch das abgeschiedenste war.
Sie klopfte forsch an und trat ein. Sie wusste in diesen Fällen nie, was sie erwartete. Es gab keine Richtlinien. Vergewaltigungen fanden in jeder Gesellschaftsschicht statt, trafen Menschen jedes Alters, jeder Statur, ja sogar jeden Geschlechts. Und jeder hatte seine eigene Art, mit dem Geschehen fertigzuwerden, was bedeutete, dass es auch hier keine berechenbaren Mechanismen gab.
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