Gepeinigt
rieb ihre leicht feuchten Handflächen am Stoff ihrer Leinenhose. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, und das Schlucken fiel ihr zunehmend schwerer. Sie brauchte dringend was zu trinken. Vorzugsweise eine schöne Tasse Tee. Und dazu eine Paracetamol, gegen das leichte Flirren hinter ihrem rechten Auge.
Stress, diagnostizierte sie. Kein Wunder. Sie hatte zwar schon oft als Gutachterin vor Gericht ausgesagt, aber immer als Pathologin, folglich hatten ihre Untersuchungen immer nach der Verübung des Verbrechens stattgefunden. Diesmal jedoch lagen die Dinge anders. Diesmal war sie als Tatzeugin geladen.
Sie saà schon seit über einer Stunde im Zeugenstand. Der Verteidiger â ein Mensch namens Jones, wenn sie sich recht erinnerte â schien sich einen Spaà daraus zu machen, sie mit seinen Fragen einzukreisen, sie hinterrücks zu attackieren. Margot kam es so vor, als wollte er sie aus dem Konzept bringen. Umso wichtiger war es deshalb, dass sie sich konzentrierte, nicht in Widersprüche verwickelte und Haltung bewahrte. Sie durfte sich auf keinen Fall von seinen Manövern provozieren und ihre Professionalität untergraben lassen.
Daher überlegte sie jedes Mal sorgfältig, bevor sie eine Frage des Anwalts beantwortete.
»Soll ich meine Frage wiederholen, Dr. Ritchie?«
»Nicht nötig«, antwortete sie forsch. »Ja, wie gesagt, ich habe gesehen, dass Mrs Roth eine Spritze in der Hand hielt und deren Inhalt ihrer zweijährigen Tochter Lucy injizierte.«
»Wenn das wirklich stimmt, wäre das denn so ungewöhnlich?«, fragte der kleine dicke Anwalt in aufdringlichem Ton. Er hatte ein Halbglatze, und sein Anzug sah aus, als hätte er darin geschlafen. »Eltern müssen ihren Kindern Medikamente geben, wenn sie krank sind.«
»Doch, es war durchaus ungewöhnlich. Vor allem, weil wir noch gar nicht herausgefunden hatten, woran das Kind eigentlich litt. In Lucys Fall war die Diagnose besonders schwer, weil â¦Â«
»Danke, Dr. Ritchie. Obwohl, es würde mich schon interessieren, wieso Sie ein solches Interesse an Lucy Roths Diagnose hatten. War sie denn Ihre Patientin?«
Margot überlegte genau, bevor sie antwortete. »Technisch gesehen, nein, aber ich war an jenem Abend die diensthabende Ãrztin und wurde vom Stationspfleger gerufen, der mich um Hilfe bat. Als ich die Kinderstation erreichte, erzählte er mir, dass sich die Mutter, Jillian Roth, eigenartig verhalte. Sie habe ihre Tasche fallen gelassen, und er habe gesehen, wie jede Menge Spritzen und Medizinfläschchen herausgefallen seien. Und er beschrieb mir Lucys eigenartige Symptome. Natürlich galt meine erste Sorge dem Wohl des Kindes. Wenn auch nur im Entferntesten die Möglichkeit bestanden hätte, dass das Kind Opfer des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms gewesen wäre, hätte ich natürlich einschreiten müssen.«
»Meinen Sie nicht vielmehr ein absichtliches Erzeugen
oder Vortäuschen von Krankheiten durch Dritte, Dr. Ritchie?«, fragte er selbstgefällig.
Genau das tat sie. Aber der Staatsanwalt hatte sie zuvor darum gebeten, für das Verständnis der Jury den alten und geläufigeren Namen einflieÃen zu lassen. Sie war zunächst vehement dagegen gewesen und hatte jeden Anschein von Taktieren oder Unprofessionalität von sich gewiesen. Am Ende hatte sie dann doch nachgegeben. SchlieÃlich war es wichtiger, die Täterin zu überführen, als auf ihren kleinlichen Skrupeln zu beharren.
»Ja, natürlich«, antwortete sie und wischte sich die Handflächen am Stoff ihrer Hose ab.
»Dr. Ritchie, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch am selben Tag, nachdem Mrs Roth das Krankenhaus verlassen hatte, eine Fallkonferenz einberiefen?«
»Ja.«
»Sie forderten im Verlauf dieser Konferenz, dass man Ãberwachungskameras in Lucys Krankenzimmer installieren sollte. Ist das korrekt?«
»Ja.«
»Obwohl der Krankenhausanwalt dagegen war?«
»Das stimmt, aber man hatte keine Einwände gegen â¦Â«
»Danke, Dr. Ritchie.« Er wandte sich abrupt an Richter Parker. »Keine weiteren Fragen mehr, Euer Ehren.«
»Sie dürfen sich setzen«, wies der Richter Margot an.
Sie nickte erleichtert. Gut, dass es endlich vorbei war. Sie beugte sich vor, nahm ihre Handtasche und trat von dem kleinen Podest herunter. Eigentlich wollte sie gar nicht zum Tisch des Verteidigers hinübersehen, hatte
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