Gepeinigt
wie gesagt, sie will so schnell wie möglich das Krankenhaus wieder verlassen.
Zweitens sollten Sie wissen, dass die Wirkung von Chloroform gewöhnlich zirka fünfzehn Minuten anhält. Wenn der Patient zu sich kommt, leidet er unter heftigen Kopfschmerzen und starker Ãbelkeit, die oft zu Erbrechen sowie Schwindelgefühlen führen. Mary war nicht gewillt, die näheren Einzelheiten ihrer sexuellen Misshandlungen zu beschreiben. Sie ist davon überzeugt, missbraucht worden zu sein. Mir scheint, dass sie weniger unwillig als unfähig ist, das Erlebte zu schildern.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie vergewaltigt wurde, als sie bewusstlos war?«
»Ich will damit sagen, dass Mary dies zu glauben scheint.«
Nick neigte den Kopf zur Seite und richtete den Blick ins Leere. Dann schwenkte er ihn wie einen Laserstrahl auf Margot. »Sie bezweifeln, dass sie vergewaltigt wurde.«
»Wir müssen zwar noch das Ergebnis der Proben abwarten, aber nein, ich glaube nicht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie vaginal oder anal missbraucht wurde.«
Nick stieà erleichtert den Atem aus und rieb sich mit zwei Fingern die Schläfen.
»Gott sei Dank. Das ist wenigstens etwas. Haben Sieâs ihr gesagt?«
»Ja.«
»Gut.« Er hielt inne. »Dann gibt es also keine DNA-Spuren?«
»Eher unwahrscheinlich. Aber vielleicht finden Sie ja was an ihrer Kleidung. Sie sagt, sie hätte sie von ihrem Entführer bekommen.«
»Gut, Margot, danke. Da fällt mir ein: Ich habe eine Kollegin gebeten, Kleidung für sie zu besorgen und am Empfang zu hinterlegen.«
»Dann gehen wir doch zusammen dorthin und holen die Sachen, ja? Und hinterher bringe ich Sie zu Mary.«
Nick erhob sich. Diesmal war er es, der ihr als Erster die Hand gab.
»Darf ich Sie anrufen, wenn ich noch Fragen habe?«
Margot schüttelte lächelnd seine Hand. Dann holte sie eine Visitenkarte mit ihren Kontaktdaten aus einer Schreibtischschublade, reichte sie ihm und ging zur Tür. Gemeinsam verlieÃen sie die Station. »Mary ist eine äuÃerst widerstandsfähige Person«, erklärte sie, »ich hoffe, das hilft ihr, alles gut
zu verarbeiten. Ich bedaure allerdings, dass sie jede weitere Betreuung ablehnt.«
Nick verstand ihren Hinweis.
»Ich werde ein Auge auf sie haben.«
Sie erreichten eine der vielen Zwischentüren. Nick hielt sie für Margot auf, die angesichts seiner altmodischen Geste keine Miene verzog.
»Mary ist die Polizistin, die entführt worden sein soll, nicht wahr? Ich habe in den Nachrichten davon gehört.«
»Ja, leider. DrauÃen wartet schon die Reportermeute. Wenn ich Sie wäre, würde ich beim Verlassen des Krankenhauses vorsichtig sein. Ich bin sicher, die hätten liebend gerne ein Statement von Ihnen.«
»Danke für die Warnung, aber die Krankenhausverwaltung weià bereits Bescheid. Soweit ich weiÃ, wird in Kürze eine offizielle Erklärung abgegeben werden. Die Medien werden natürlich nur über das Allernötigste informiert. Die Privatsphäre der Patientin bleibt gewahrt.« Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie zögernd: »Sie sind in den letzten Tagen sicher schwer unter Druck gestanden.«
Nick verzog das Gesicht.
»War kein Zuckerschlecken«, brummte er. »Aber seien Sie sparsam mit Ihrem Mitgefühl, Doc, wir Bullen schätzen es nicht â wie Sie ja bereits bei Mary am eigenen Leib erfahren haben.«
»Hm. Schalten Sie eigentlich nie ab, Nick? Einkaufen gehen oder ein Footballmatch anschauen, ohne auf die kleinen Ungereimtheiten in Ihrer Umgebung zu achten? Auf den Kerl, der im Sommer mit einem Wintermantel rumläuft? Den tätowierten Jugendlichen in dem viel zu teuren Auto?«
Sie sprach mit sanfter, rücksichtsvoller Stimme. Es war klar, dass sie ihn nicht beleidigen wollte. Nick antwortete ehrlich:
»Nein, mein Job ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.«
Margot nickte.
»Geht mir genauso«, sagte sie leise mit wissendem Blick.
Nick schaute ihr in die Augen. Sie schmunzelte. Er musste sie bewundern. Er war ihr perfekt in die Falle gegangen und merkte erst jetzt, dass er sie verletzt, ja vielleicht sogar beleidigt hatte, als er vorhin ihrer Frage nach seinem Befinden eine Abfuhr erteilt hatte. Das Interesse am Wohlergehen ihrer Mitmenschen war ihr zur zweiten Natur geworden, so wie ihm sein Beruf. Sie kam nicht gegen ihre Natur an,
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