Gepeinigt
Scotch ein. Er stellte die Flasche in den Schrank, nahm sie jedoch gleich wieder heraus und ging damit zurück ins Wohnzimmer. Glas und Flasche in der Hand setzte er sich an den Wohnzimmertisch und breitete seine Notizen vor sich aus. Ohne auf das Geschnatter der nächtlichen Buschbewohner zu achten â hauptsächlich Geckos und grüne Baumfrösche -, versuchte er in der nächsten Stunde über zwei Gläsern Scotch sein Wissen in vier Kategorien einzuteilen: erledigte Standardverfahren, noch zu erledigende Aufgaben, was er bisher herausgefunden hatte und was er nicht wusste. Als er damit fertig war, fühlte er sich ausreichend auf die morgige Konferenz vorbereitet.
Jetzt widmete er sich dem Warum. Diese Taktik hatte er von seinem ersten Detective Sergeant gelernt: ein scheinbar unlösbarer Fall lässt sich oftmals doch noch lösen, wenn man das Was und (Indizienbeweise, Zeugenaussagen, Modus Operandi), das Wer ignoriert und sich ausschlieÃlich mit dem Warum beschäftigt. Die Antwort darauf löst gleichzeitig auch alle anderen Fragen.
Warum das Risiko eingehen, eine Polizeibeamtin zu entführen und physisch und mental zu misshandeln? Und warum gerade jetzt?
Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Er griff zum Handy und gab eine Kurzwahlnummer ein.
»Ja, Sarge?«
»Claudia, können Sie sich erinnern, ob der Name Bruce Johns bei den Entlassungen aufgetaucht ist?«
»Negativ, Sarge. Aber mir ist heute Morgen zufällig zu Ohren gekommen, dass er gerade bei einem Berufungsverfahren gescheitert ist. Hat einen ganz schönen Wirbel veranstaltet. Wundert mich, dass Sie nichts davon gehört haben. Ist das Tagesgespräch hier.«
»Aha. Danke. Also bis morgen.« Er beendete das Gespräch.
Zwei Sekunden später, er wollte gerade nach der Scotchflasche greifen, klingelte sein Handy. Gott, er war ein Idiot. Er musste aufhören zu trinken. Wenn er nun zu einem Einsatz gerufen wurde?
»Ja, Claudia«, fauchte er in den Hörer, ohne auf die Nummer zu schauen.
»Ich binâs, Mary.«
Und einfach so kippte die Waagschale von angetrunken zu betrunken, sein Kopf wurde schwer, seine Gedanken wattig, seine Zunge belegt. Ihm wurde heiÃ, er streifte sein Jackett ab.
»Mary. Sorry. Wasis?«
»Sarge? Hab ich Sie geweckt?«
»Nein, nein, macht nichts. Was ist?«
»Mir ist noch was eingefallen. Der Bastard hatte vier Ersatzreifen im Van. Wieso? Weil er vorhatte, die Reifen zu wechseln, deshalb. Die Reifenspuren am Tatort nützen uns einen ScheiÃdreck, Sarge.«
Nick blinzelte und versuchte klar zu denken.
»Wir kriegen ihn, Mary.«
Er hörte sie schnauben.
»Ja, klar.«
»Ich ruf Sie morgen an.«
Er legte eilig auf.
Nick war ein von Natur aus stiller, in sich gekehrter Mensch. Auch war er ein typischer Feierabendtrinker. Aber er wusste, dass er gelegentlich in schlechte Stimmungen verfiel und aus ein, zwei Gläsern, die er sich gewöhnlich leistete, leicht mehr werden konnte. Es kam zwar selten vor, aber ab und zu tauchte er mit einem schrecklichen Brummschädel im Dienst auf. Er war dann den ganzen Tag gereizt und zog
sich völlig in sich selbst zurück. Er hasste solche Tage. Seinen Mitarbeiter ging es nicht anders, auch wenn sie den Grund nicht kannten. Und es schien, dass der morgige Tag genau so einer werden würde.
Dass der Mensch in Frieden leben kann, ist eine Illusion. Er braucht den Konflikt; und wenn er ihn nicht finden kann, so schafft er ihn sich.
Charlotte Brontë
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⦠Verrat und Gewalt sind Speere mit zwei Spitzen. Sie verwunden stärker jene, die sie benutzen, als ihre Feinde.
Emily Brontë
Simon
Die Schranke des Parkhauses kreischte bei jedem Ãffnen und SchlieÃen wie zwei sich anfauchende Katzen, ein Geräusch, das Simon Moloney allmählich ziemlich auf die Nerven ging. Er hatte gute Lust, sich bei der Hotelverwaltung zu beschweren â vielleicht sogar auf eine freie Ãbernachtung zu bestehen, zum Ausgleich für den Stress, der ihm zugemutet wurde. Und er wettete darauf, dass er nicht der Erste war, der sich diesem Geräuschterror ausgesetzt sah, während er in seinem Wagen â nun, genau genommen in dem Wagen seiner Mutter â saà und wartete. Er schlürfte seine Cola, warf den Kopf in den Nacken, gurgelte geräuschvoll und schluckte die schaumige Flüssigkeit hinunter. Sein Blick richtete sich gemächlich auf den
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