Gepeinigt
versuchte sie, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, seine Augen zum Beispiel: kalt und hell, wahrscheinlich blau, aber sie konnten auch grau oder grün gewesen sein. Keine auffälligen Wimpern. Sein Mund war obszön, spöttisch, dünnlippig, korallenrot. Schlanke, sehnige Statur, ungefähr eins vierundsiebzig groÃ.
Zurück zu den Täterprofilen. Sie ging die Sache von einem anderen Blickwinkel an. Welcher dieser drei kam nicht infrage? Die Antwort war leicht: Jonathon Fry. Der war eins sechsundachtzig groÃ. Und wenn man Lederstiefel mit mindestens drei bis vier Zentimetern Absatz dazurechnete, kam man auf eins neunzig. Viel zu groÃ. Sie hätte sich ohrfeigen können. Das hätte sie früher merken müssen.
Blieben noch zwei. Sie blätterte zwischen den beiden hin und her, Simon Moloney, Levi Kowaltzke. Und noch mal. Simon Moloney, Levi Kowaltzke. Wieder und wieder. Sie starrte die Augen an. Vor und zurück. Starrte in die Augen. Vor und zurück.
Dann lief es ihr eiskalt über den Rücken. Wie erstarrt richtete sie sich auf. Das war er! Ganz sicher! Wahrscheinlich.
Sie stopfte die Blätter in die Mappe zurück. Was jetzt? Ihn sofort schnappen? Zu seinem Haus fahren und auf ihn warten? Alle ihre Instinkte rieten ihr, sofort aufzuspringen und sich den Mistkerl zu krallen. Ihn zu verhaften. Gerechtigkeit. Rache. Sie erhob sich und setzte sich wieder. Wie sollte sie dorthin kommen? In einem Taxi? Erbärmlich. Sie zwang sich, zu überlegen. Idealfall: Sie borgte sich ein Auto und legte eine Lehrbuch-Verhaftung hin. Schlimmster Fall: Er floh, und sie war ohne Verstärkung, er griff sie an, betäubte sie, vergewaltigte sie, eine letzte, unerträgliche Demütigung,
er stach mit einem Messer auf sie ein, tötete sie, verscharrte sie, und sie verschwand auf Nimmerwiedersehen. Alles übertrieben dramatisch und höchst unwahrscheinlich, aber immerhin möglich.
Wenn es ihr gelang, an ein Auto zu kommen.
Ihre Vernunft schaltete sich ein wie ein ungebetener Gast. Sie durfte nicht allein gehen. Sie brauchte Verstärkung. Ein Fehlschlag kam nicht infrage.
Aber an wen sollte sie sich wenden? An Nick? Er käme als Einziger in Betracht. Sie lieà sich die Möglichkeit durch den Kopf gehen und verwarf sie wieder. Er würde ihr den Fall aus der Hand nehmen, Stück für Stück, und die Verhaftung selbst vornehmen. Entweder das oder sich weigern, einer Spur nachzugehen, die nur auf ihrem Instinkt beruhte. Und dann hätte sie ihre Karten offenlegen müssen, und er würde zu einem Feind werden, der gegen sie arbeitete.
Einer der Jungs? Wes oder Tom vielleicht? Aber Nick hatte einer Teamarbeit mit ihnen von vorneherein einen Riegel vorgeschoben. Das kam also auch nicht infrage, auÃer sie wartete bis Dienstschluss und rief, Wes zum Beispiel, nach der Arbeit an, erklärte ihm alles und bat ihn, ihr zu helfen. Aber konnte und durfte sie so lange warten und dieses Risiko eingehen? Nein. Dann blieb nur Claudia.
11:35 Uhr
Claudia klopfte an die Klotür.
»Mary, brauchen Sie noch lange? Es ist nur, Nick möchte, dass wir â¦Â«
»Bin schon fertig«, würgte Mary ihre Kollegin ab und riss die Tür auf. »Muss nur noch kurz ins Büro und meine Tasche holen.«
Claudia nickte, aber als Mary nach mehreren Minuten nicht aufgetaucht war, ging sie ihr nach. Mary sprach mit Tom über ein Handy, soweit Claudia mitbekam, die nicht wirklich an dem Gespräch interessiert war. Paul Temple warf ihr einen Blick zu und hob die Brauen. Was er damit meinte, wollte Claudia gar nicht erst wissen. Glücklicherweise verkniff er sich eine Bemerkung. Sie kehrte ihm den Rücken zu. Nick ging mit einem frischen Becher Kaffee in der Hand an ihr vorbei.
»Worauf warten Sie?«, fragte er.
»Mary.« Sie deutete auf ihre Kollegin.
Nick grunzte, nickte und ging weiter.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte Mary, aber ihre Stimme klang überhaupt nicht so, als ob sie es bedauern würde. »Kommen Sie, gehen wir.«
Claudia ging absichtlich langsam, damit die andere die Führung übernehmen konnte.
»Den dort in der Ecke«, sagte sie, als sie den Parkplatz erreicht hatten, und deutete auf einen Wagen. Mary nickte nur, und Claudia fragte sich unwillkürlich, was wohl in ihr vorging. Obwohl sie sich denselben Dienstraum teilten, hatte Claudia bisher nur sehr wenig mit der Kollegin zu tun gehabt.
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