Gérards Heirat
Die Nacht gibt den Wäldern ein eigenartigeres, vertrauteres Gepräge. Bei Tage von Sonnenschein durchwoben, von dem Gesang der Vögel oder dem Klang menschlicher Stimmen fröhlich belebt, scheinen sie die Lebenskraft anderer in sich aufzunehmen; sich selbst überlassen, leben sie ihr eigenes Leben in der Nacht. In ihrem Schatten werden tausend im vollen Tageslicht unvernehmbare Töne wieder bemerklich; man unterscheidet das Zittern des stets bewegten Espenlaubes, das Knistern der Farnkräuter, die sich wieder aufrichten, den matten Ton einer ins Moos herabfallenden Eichel oder das leise Gurgeln einer winzigen Quelle, die Tropfen um Tropfen durch die Baumwurzeln sickert. All dieses Flüstern und Rauschen vereinigt sich zu ernstem, harmonischem Zusammenklang. So erwachten auch inmitten der düsteren, kummervollen Stimmung, die Gérards Herz erfüllte, tausend kleine Eindrücke aufs neue, die bisher in der fröhlichen Aufregung der letzten Woche unbeachtet geblieben waren, und vereinigten so zu sagen ihre schwachen Stimmen. Er erinnerte sich plötzlich der geringsten Aeußerung Helenens, ihrer unbedeutendsten Bewegungen, des raschesten Wechsels in ihrem geistvollen, beweglichen Antlitz. Das Rauschen des Windesin den Fichten erinnerte ihn an die Tanzmusik in Salvanches ... Er sah Helene wieder vor sich, wie sie sich langsam mit lachendem Munde in ihrem langen, schleppenden Gewand unter dem strahlenden Kronleuchter drehte, wie sie sich ans Klavier setzte und mit ihrer klaren, klangvollen Stimme das Taubenlied sang:
Im Waldgrund tief versteckt
Der Taube Sang dich neckt,
Wo alles grünt und blüht,
Hörst du, mein Lieb, ihr Lied?
Ach! Nicht die zärtliche Stimme der Holztaube erklang diese Nacht in den Schluchten des Waldes! Nur der unheimliche Klageton der Nachteule erhob sich von Zeit zu Zeit wie der verzweifelte Hilferuf eines verirrten Kindes. Dieser weittönende Jammerschrei klang von Baum zu Baum, bis er sich in weiter Ferne im Gehölz verlor; jedesmal, wenn er durch den Hochwald drang, verstummten die kleinen Grillen, die in dem hohen Grase zirpten, plötzlich, und Gérard bildete sich ein, die Stimmen seines eigenen, entschwundenen Glückes zu vernehmen, das ihm von ferne zurief: »Ich kehre niemals wieder, niemals wieder!« Er beschleunigte seine Schritte; die Dunkelheit im Walde drückte auf ihn. Endlich lichteten sich die Bäume, auf das Gehölz folgten Stoppelfelder; Dächer zeichneten sich undeutlich am Horizonte ab und lautes Hundegebell rief das Echo des Waldes wach.
»Sind Sie's, Herr Gérard?« sagte plötzlich eine besorgte Stimme.
Er fuhr zusammen und erkannte den schweigsamen Baptist, der sich als Schildwache vor dem Stalle der Meierei aufgepflanzt hatte.
»Hoffentlich hat Sie wenigstens der Herr Baron nicht gesehen?« fuhr er fort, »er wird mich schön heruntermachen, schon vor drei Stunden hätte ich auf dem Wege sein sollen ... Gute Nacht!«
Gérard gelangte im Finstern tappend auf sein Zimmer und schlief erst bei Tagesgrauen ein. Er erwachte gegenzehn Uhr, ohne zu wissen, wo er war, mit dem dumpfen Gefühl einer Last, die ihm das Herz bedrückte. Er rieb sich die Augen, erkannte die Meierei und verstand auch wieder die Angst, die ihm die Brust zusammenschnürte ... Die Stunden dieses ersten Tages in der Verbannung schlichen bleischwer dahin. Gegen Abend konnte er es nicht mehr aushalten und lief zwei Meilen weit durch den Wald, um die Kirchturmspitze von Sankt Stephan zu betrachten, dann kam er abgehetzt zurück und legte sich ohne Abendessen zu Bett. Am anderen Morgen wurde dies Verfahren wiederholt. In aller Frühe schnallte er seine Gamaschen um und erreichte auf allerlei Kreuz- und Querwegen eine rebenbewachsene Hochebene, die den Gärten der oberen Stadt gegenüberlag. Dort kletterte er auf einen wilden Birnbaum und begann, mit einem Opernglas bewaffnet, von der Höhe dieses Observatoriums herab die Gegend gründlich zu erforschen. Jenseits des Rebenhügels bezeichnete ein dunkler Streifen die Schlucht von Polval, dann hob sich das Terrain wieder bis zu den Abhängen, an denen sich die Terrassen der Gärten staffelförmig aufbauten. Man sah die von Bäumen umgebenen alten Häuser der Straße, in der auch seines Vaters Haus lag, mit den Rebenspalieren, den von Clematis umrankten Lauben, den grauen, von mittelalterlichen Fenstern durchbrochenen Fassaden. Man konnte die Farben der Dahliengebüsche und die Bewegungen der Gardinen hinter den offenen Fenstern unterscheiden. Gérard hatte die
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