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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Theuriet
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Wohnung des Schulrates schnell herausgefunden und seine Augen wandten sich nicht mehr von ihr ab. Es war zwölf Uhr; die Glocke von Sankt Stephan läutete langsam das Angelus; dann rief die große Glocke die Fabrikarbeiter zum Mittagessen. Plötzlich zeigte sich auf der Freitreppe neben dem Maulbeerbaum eine weiße Gestalt. Das Herz des jungen Mannes schlug heftig, das Glas zitterte in seiner Hand. Bald erschienen die Kinder, zum Schluß auch Marius Laheyrard; die weiße Gestalt stieg langsam die Stufen hinab, die anderen folgten ihr nach, undalle verschwanden hinter den Obstbäumen. Gérards Gesicht verdüsterte sich; aber er hatte noch nicht Zeit gehabt, sein Glas abzuwischen, als auch schon die vier Gestalten an der in die Weinberge führenden Thüre wieder erschienen. Es war Helene; er sah ihren Strohhut mit den kirschroten Bändern ganz deutlich, ebenso die Farbenschachtel und den Feldstuhl, die Marius trug und die Schmetterlingsnetze, welche die Kinder schwangen. Ohne Zweifel wollte sie nach der Natur malen. Die ganze Gesellschaft schlug den Fußweg durch die Weinberge ein und verschwand aufs neue in der Schlucht von Polval.
    Gérard war auf seinem Baume geblieben. Er wartete; er hatte ein Vorgefühl, daß noch nicht alles zu Ende sei. Nach einer Viertelstunde tauchten über den Reben auf der Hochebene zuerst die Schmetterlingsnetze, dann Marius' großer Filzhut und schließlich auch das helle Kleid aus ungebleichter Leinwand wieder auf. Sie gingen schräg durch die Weinberge, um den Wald in der Richtung nach einer sehr malerischen Schlucht, »Höllengrund« genannt, zu erreichen, Gérard erinnerte sich, daß Helene öfters den Wunsch geäußert hatte, Studien nach einer alten, ehrwürdigen Buche zu malen, welche die Schlucht beschattet und deren mächtige Wurzeln von einer Quelle bespült werden. Sein Wunsch, das junge Mädchen wiederzusehen, war viel zu lebhaft, als daß er sich dieses günstige Zusammentreffen nicht hätte zu nutze machen sollen. Er glitt von seinem Baume herab und schlug langsam, mit der Vorsicht eines Mohikaners, der durch den Urwald schleicht, den Weg nach der Schlucht ein.
    Er hatte sich nicht getäuscht. Fräulein Laheyrard verfolgte den von Laubwerk überwölbten schmalen Pfad, der steil in die Waldschlucht hinabführt. Als sie an der Quelle angekommen waren, legte Marius die Farbenschachtel und den Feldstuhl unter die Buche, wischte sich die Stirne ab und sagte: »Auf Wiedersehen! unterhaltet euch gut; ich will noch bis Savonnières weiter gehen, um ungestört über ein Sonettnachzudenken, das ich zu Ehren der unvergleichlichen Schönheit, die mein Herz verwundet hat, machen will ... Denn,« setzte er hinzu, als er ein Lächeln um Helenens Lippen spielen sah, »auch ich bin sterblich verliebt, auch ich flehe zu den Gestirnen, daß sie die Härte eines grausamen Vaters erweichen und den Tag heraufleuchten lassen, an dem sich unsere Geschicke auf immer vereinen ...«
    Er entfernte sich und deklamierte noch im Gehen die Strophen Theophiles von Viand:
    »Golden wird der Tag mir sein,
Wo ich wandle, Sonnenschein,
Und die Götter werden laben
Sinn und Herz mit edlen Gaben,
Günstig dem Geschicke mein
Spenden liebevoll und leise
Mir Ambrosias Himmelsspeise ...«
    Die Kinder jagten, dem Laufe des Baches folgend, den Admiralen und Veilchenfaltern nach, die unter dem Geäste der Buchen dahinflatterten. Nachdem sie ihre Hände in die Quelle getaucht und den Hut abgenommen hatte, setzte sich Helene vor ihre Leinwand und rüstete ihre Palette. Lange saß sie in Gedanken versunken; die großen Augen blickten unbeweglich vor sich, ohne etwas zu sehen. Und doch war die Landschaft so schön beleuchtet, wie es ein Maler sich nur wünschen konnte. Tief und breit dehnte sich die Waldschlucht zur Rechten und Linken aus; hier waren in harmonischer Mischung alle Farbentöne des Blattwerkes, vom metallischen Grün der Eichen bis zum blassen Grün der Weiden vertreten. Die großen Bäume des Waldsaumes hoben sich von dem klaren, mit leichten Wölkchen besäten Himmel ab; sie schienen sich von dem Gehölz losgelöst zu haben, und die Umrisse ihrer Gipfel sahen aus wie die Haken einer riesigen grünen Krone. Die eine Seite der trichterförmigen Schlucht war ganz in bläuliche Schatten gehüllt; nur ein Sonnenstrahl drang wie silberner Dunst herab und schien durch das Laub der Buche in tausendleuchtenden Tropfen über dem dunkeln Spiegel der Quelle zu zerstäuben. Die andere Seite der Schlucht war ganz von der

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