Geraubte Erinnerung
nicht wahr? Wie eine Wasserstoffbombe, hast du erzählt.«
»Ja. Sie hat die Dunkelheit mit irrsinniger Geschwindigkeit verschlungen. Und doch blieb der Mann in meinem Traum stets außerhalb der Explosion.«
»Wie interpretierst du dieses Bild? Gott beobachtet die Geburt des Universums?«
»Ja, aber ich interpretiere nicht. Ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, was Gott gesehen hat.«
Ihr Daumen hörte auf sich zu bewegen. Sie konnte die Traurigkeit in ihren Augen nicht verbergen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte ich.
»David, du kannst nicht meine Gedanken lesen.«
»Ich kann in deinen Augen lesen. Hör zu, um zu verstehen, was ich dir sage, musst du in den nächsten zwanzig Minuten deine psychiatrische Ausbildung vergessen.«
Sie seufzte tief. »Ich will es versuchen. Ich verspreche dir, ich gebe mir alle Mühe. Beschreibe mir, was du gesehen hast.«
»Ich habe es dir vor Wochen beschrieben. Es ist nur so, dass ich es damals nicht verstanden habe. Diese Explosion war der Big Bang. Die Geburt von Materie und Energie aus einer Singularität. Die Geburt der Zeit und unseres Universums.«
»Und der Rest deiner Träume?«
»Du erinnerst dich, was ich gesehen habe. Nach dem Big Bang begann das expandierende Universum, Gott zu verdrängen. Es geschah nicht dreidimensional, als würde es den leeren Raum ausfüllen, doch wir können es uns nicht anders begreiflich machen. Versuch dir Gott als einen unendlichen Ozean vorzustellen. Die Genesis beschreibt etwas in dieser Art. Keine Wellen, keine Oberflächenspannung, nicht einmal Luftblasen. Perfekte, vollkommene Harmonie, absolute Trägheit.«
»Erzähl weiter.«
»Stell dir die Geburt des Universums so vor, als würde sich eine Blase im Zentrum dieses Ozeans bilden. Wie eine Explosion, die sich immer weiter ausdehnt und das Wasser mit Lichtgeschwindigkeit verdrängt.«
»Gut.«
»Was ich in meinen späteren Träumen gesehen habe, war das, was im Innern dieser Blase geschieht. Die Geburt von Sternen und Galaxien, die Entstehung von Planeten und anderen Himmelskörpern. Ich habe gesehen, wie das Universum sich entfaltet hat. Du hast gesagt, es wären Bilder wie vom Hubble-Weltraumteleskop.«
»Ich erinnere mich.«
»Irgendwann konzentrierten meine Träume sich auf die Erde. Meteoriten schlugen in die primitive Atmosphäre ein, Aminosäuren entstanden. Die Evolution überschritt die Schwelle vom Anorganischen zum Organischen. Mikroben wurden vielzellig, und die Entwicklung begann, Stufe um Stufe hinauf über Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere …«
»Menschen«, beendete Rachel meinen Satz.
»Genau. Es dauerte zehn Milliarden Jahre, um allein die organische Evolution zu starten. Dann Hunderte von Millionen Jahre der Mutationen, bis die Menschen entstanden. Und all das war in den Augen Gottes nichts .«
Rachel hob die Augenbrauen. »Warum? Hat Gott denn nicht all diese Kreaturen erschaffen? Damit sie existieren?«
»Nein. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, Gott wurde überrascht von alledem.«
»Überrascht?«
»Nun ja … ich glaube, es war mehr ein Gefühl von Déjà-vu. Er hatte so etwas schon einmal gesehen. Nicht ganz genauso, aber was er sah, weckte Erinnerungen in ihm.«
Sie drehte sich um und starrte mich an. »Und die Schaffung des Lebens bedeutete ihm nichts?«
»Nicht zu Anfang. Dann aber blitzte eine Flamme in dieser brodelnden Masse auf – ein Funke, der so hell wurde wie in seinem Auge zuvor der Big Bang.«
»Was für ein Funke?«
»Bewusstsein. Menschliche Intelligenz. Irgendwo in Afrika wurde ein werkzeugmachender Hominide mit relativ großem Gehirn sich der Tatsache seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Er war imstande, sich eine Zukunft vorzustellen, in der er selbst nicht mehr existierte. Dieser Hominide war sich nicht nur seiner selbst bewusst, sondern auch der Zeit. Und dieser Augenblick war eine Epiphanie für Gott.«
»Warum?«
»Weil Gott in dieser grauenvollen Explosion aus Energie und Materie Bewusstsein als etwas erkannte, das war wie er selbst.«
»Das also ist Gott? Bewusstsein?«
»Ich glaube schon. Bewusstsein ohne Energie und Materie. Reine Information.«
Rachel schwieg eine ganze Weile, doch diesmal konnte ich nicht in ihren Augen lesen. »Wohin führt das alles?«, fragte sie schließlich.
»Zu einem sehr provokativen Schluss. Aber bleiben wir für den Augenblick noch bei meinen Träumen. Die Menschheit entwickelte sich rasch. Sie lernte den Ackerbau, gründete Städte, zeichnete ihre
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