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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Zusammenbruch stand. Ich ging zur Toilette; dann begab ich mich nach hinten, wo Rachel lag. Sie schlief nicht mehr, sondern starrte durch ein Bullauge nach draußen auf den endlosen Teppich aus Kumuluswolken tief unter uns.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
    Sie blickte zu mir auf, tiefe Ringe unter den Augen. »Ich dachte, sie würden dich nie gehen lassen.«
    Ich setzte mich neben sie. Mein Hals war rau vom Reden, und mein Nacken schmerzte, als hätte ich in der ersten Reihe eines Kinos gesessen und einen Breitwandfilm gesehen.
    Rachel legte ihre Hand in die meine und lehnte sich gegenmeine Schulter. »Wir haben uns nicht mehr richtig miteinander unterhalten, seit du aus dem Alpha-Koma erwacht bist.«
    »Ich weiß.«
    »Werden wir jetzt miteinander reden?«
    »Wenn du möchtest. Aber es wird dir nicht gefallen, was ich zu sagen habe.«
    »Hast du geträumt?«
    »Ja und nein. Es war nicht wie meine alten Träume. Nicht wie ein Film, der vor mir abläuft. Es war, als wäre ich mein Leben lang taub gewesen und hätte dann plötzlich eine Fuge von Johann Sebastian Bach gehört. Ein unbeschreibliches Gefühl der Offenbarung. Und jetzt weiß ich … Dinge.«
    »Das klingt wie ein Drogentrip. Was für Dinge weißt du jetzt?«
    Ich dachte über ihre Frage nach. »Dinge, wie ein Fünfjähriger sie wissen will. Wer sind wir? Woher kommen wir? Gibt es Gott?«
    Rachel setzte sich auf, und ich sah ihr an, dass sie in ihre professionelle Persona schlüpfte. »Erzähl mir mehr darüber.«
    »Das werde ich. Aber du musst all deine vorgefassten Meinungen beiseite lassen. Was ich dir jetzt sagen werde, ist Saulus auf der Straße nach Damaskus.«
    Sie kicherte leise und mit wissenden Augen. »Glaubst du, ich hätte etwas anderes von dir erwartet?«
    Ein Teil von mir wollte lieber schweigen. Die Dinge, die ich Rachel in der Vergangenheit anvertraut hatte, hatten ihre Bereitschaft zu glauben bis an die Schmerzgrenze gedehnt, und doch waren sie im Vergleich zu den Offenbarungen meines Komas beinahe trivial. Das Sicherste war vielleicht, wenn ich mit etwas Vertrautem anfing.
    »Erinnerst du dich an meinen ersten Traum? Der immer wieder kam?«
    »Du meinst den Traum von dem Mann, der bewegungsunfähig in einem dunklen, lautlosen Raum sitzt?«
    »Ja. Er kann weder sehen noch hören. Erinnerst du dich, welche Fragen er sich gestellt hat?«
    »›Wer bin ich? Woher komme ich?‹«
    »Richtig. Du hast gesagt, der Mann in diesem Traum wäre ich, erinnerst du dich?«
    Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du glaubst immer noch nicht, dass du es warst?«
    »Nein.«
    »Wer war es dann?«
    »Gott.«
    Die Muskeln spannten sich unter der glatten Haut ihres Gesichts. »Das hätte ich mir denken können.«
    »Keine Panik, ich benutze dieses Wort quasi stellvertretend, weil wir kein Wort für das besitzen, was ich erlebt habe. Gott ist überhaupt nicht so, wie wir ihn uns immer vorstellen. Er ist weder männlich noch weiblich. Er ist nicht mal ein Geist. Und das Personalpronomen benutze ich nur, um das Reden darüber leichter zu machen.«
    »Das ist gut zu wissen.« Sie grinste spöttisch. »Du willst mir erzählen, Gott sei ein paralysiertes Wesen ohne Erinnerung, das in einem pechschwarzen, lautlosen Raum sitzt?«
    »Am Anfang, ja.«
    »Ist er machtlos?«
    »Nicht ganz. Doch er glaubt, machtlos zu sein.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Um den Anfang zu verstehen, musst du das Ende verstehen. Wenn wir am Ende angelangt sind, wird dir alles klar.«
    Rachel sah ganz und gar nicht überzeugt aus.
    »Erinnerst du dich an den Traum? Der Mann in dem Zimmer wird ganz besessen von seinen Fragen, so besessen, dass er sich in die Fragen verwandelt. ›Wer bin ich? Woher komme ich? War ich immer hier?‹ Dann sieht er eine schwarze Kugel in dem schwarzen Raum vor sich. Schwärzer als die restliche Schwärze.«
    Rachel nickte. »Weißt du inzwischen, was für eine Kugel das ist?«
    »Ja. Eine Singularität. Ein Punkt unendlicher Dichte und Temperatur und unendlichen Drucks.«
    »Ein schwarzes Loch? Wie das, was vor dem Big Bang existiert hat, dem Urknall?«
    »Genau. Und weißt du, was vor diesem Schwarzen Loch existiert hat?«
    Sie zuckte die Schultern. »Niemand weiß das.«
    »Ich weiß es.«
    »Was?«
    »Der Wunsch Gottes zu wissen .«
    Neugier erwachte in ihren Augen. »Was zu wissen?«
    »Wer er ist.«
    Rachel nahm meine Hand in die ihre und rieb meinen Handrücken mit dem Daumen. »Die schwarze Kugel ist in deinem Traum explodiert,

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