Gerechte Engel
widerrief er sein Geständnis allerdings. Trotzdem kam er, seine Unschuld lautstark beteuernd, auf den elektrischen Stuhl.
Er hatte gestanden.
Bree lehnte sich zurück, um darüber nachzudenken. Von einem Rechtsanwalt des Angeklagten war erst einige Wochen nach dem Mord die Rede gewesen. Die Polizei war erst seit 1966 verpflichtet, Verdächtige über ihre Rechte aufzuklären. Was die polizeilichen Verhörmethoden anging, so gab es damals wesentlich weniger Kontrolle als heutzutage.
Bree überlegte, ob Dent das Geständnis vielleicht aus William Norris herausgeprügelt hatte.
Sie blätterte die restlichen Artikel durch und hielt bei den Berichten über Alexander Bullochs tragische Odyssee mit dem brennenden Karren inne. Die Berichte waren erstaunlich diskret, was aber vielleicht gar nicht so bemerkenswert war, da die Familie Bulloch stets in ehrfürchtigem Ton erwähnt wurde, sofern sie überhaupt genannt wurde. Ein Foto von Alexander fehlte. Petru hatte allerdings ein Bild von Consuelo ausfindig gemacht. Bree fand es ein wenig unheimlich, ihre Klientin in irdischer Gestalt zu sehen. Consuelo war sehr dünn, hatte einen schmalen, straffen Mund und eine noch straffere Dauerwelle. Am Kragen ihres streng und förmlich wirkenden Kleides war die bewusste Brosche befestigt. Die Unterschrift unter dem Foto lautete: Mrs. Alexander Bulloch bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung des Roten Kreuzes. Bree betrachtete Consuelos Gesicht. Sie sah ganz gewiss nicht wie eine Frau aus, die die üppigen Kurven von Haydee Quinn an ihrem Esstisch willkommen heißen würde. Bree rief sich die Anklagepunkte in Erinnerung, die ihre Klientin in die Hölle befördert hatten: Bösartigkeit, Bigotterie, Verrat. Ja, dieses Gesicht sah ganz danach aus, als sei sie all dieser Dinge fähig gewesen. Aber Mord?
Einer plötzlichen Eingebung folgend, holte sie die Brosche aus der Aktentasche und nahm sie zwischen die Hände.
»Mrs. Bulloch?«
Ein leises Seufzen wurde hörbar. Die Jalousie am Fenster bewegte sich, obwohl kein Wind ging.
»Mrs. Bulloch?«
In diesem Augenblick klopfte jemand an die Tür des Büros. Bree war so sehr in die frustrierende Aufgabe, ihre Klientin herbeizuzitieren, vertieft, dass sie zunächst annahm, es sei Mrs. Bulloch, die man aus der Sphäre entlassen hatte.
Doch es war nicht Mrs. Bulloch.
… ’s ist Sparsamkeit im Himmel,
Aus taten sie die Kerzen …
William Shakespeare, Macbeth
»Ach, Sie sind’s, Dent«, sagte Bree.
»Haben Sie ’ne Minute Zeit?« Er trat mit seiner Fahrermütze in der Hand ins Büro.
»Ja, klar. Kommen Sie rein.« Sie zeigte auf den Besucherstuhl. »Setzen Sie sich.«
»Das ist also Ihr Büro?« Er warf einen Blick auf die kahlen Wände und das spärliche Mobiliar. »Die Geschäfte scheinen ja nicht besonders gut zu gehen.«
»Wenn Sie weiterhin zu den ungünstigsten Gelegenheiten in meinem Kopf auftauchen, werden sie sogar noch schlechter gehen. Vorhin habe ich mich wie eine Idiotin benommen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine diesen Vorfall in John Stubblefields Büro. In Gegenwart von Sammi-Rose Waterman. Ganz zu schweigen von Payton der Ratte.«
Seine Miene hellte sich auf. »Oh, Sie meinen die Arschtatscherei. Tja, das ist etwas, das Sie sich merken sollten.«
»Das ich mir merken sollte?« Automatisch setzte sie noch hinzu: »Bitte sprechen Sie bei Frauen nicht von Ärschen. Das ist ernied… ach, lassen wir das. Was, bitte schön, soll ich mir dabei denn merken?«
»Dass es einen Maßstab für die Großkopferten und einen für die restliche Bevölkerung gibt.« Er schürzte die Lippen. »Die Sache ist nämlich die, dass Sie zu den Großkopferten gehören, deshalb …«
»DENT!« Bree holte tief Luft, ließ den Kopf sinken und zählte von zehn rückwärts. »Okay. Sie haben ein Problem mit Ihrem Selbstwertgefühl. Ich bin Ihre Bürgin, nicht wahr? Lassen Sie uns die Sache also erörtern. Alle Menschen sind gleich. Haben Sie das vergessen?«
»Bloß dass einige gleicher sind als andere«, erwiderte Dent, ohne zu lächeln. »Hören Sie, ich will unbedingt zu Bobby Lee raus und möchte, dass Sie mitkommen.«
»Sergeant Kowalski?« Bree warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Dafür habe ich heute nicht genug Zeit. Um sieben bin ich mit Flurry Smith verabredet, von der ich mir eine Menge nützlicher Informationen erhoffe. Aber lassen Sie uns kurz über den Fall sprechen, ja? Wir sollten eine Liste mit Fragen für Kowalski zusammenstellen. Ich verspreche Ihnen, dass wir
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