Gerechte Engel
so. Manche schaffen es nie. Hier ist sein Zimmer. Sie haben einen günstigen Zeitpunkt erwischt. Nachmittags sieht er sich immer Jeopardy an, aber das dürfte gleich vorbei sein.« Sie klopfte an die Schwingtür, schob sie auf und sagte laut: »Bobby Lee? Sie haben Besuch. Eine hübsche Dame und ein Bekannter von ihr.«
Vor einem kleinen Fernseher stand ein Sessel aus Kunstleder, in dem ein sehr alter Mann saß, der so krumm wie ein Angelhaken war. Seine Haut war mit Altersflecken übersät. Er erinnerte Bree an eine Pflanze, die einen gehörigen Schluck Wasser brauchte. Er hatte ein unglaublich runzliges Gesicht und dunkelbraune Augen, die hellwach wirkten. Bei Mrs. Bagleys Worten schnappte er sich den am Sessel lehnenden Krückstock und stand auf. »Wer ist das?«, fragte er.
»Besuch!«, schrie Mrs. Bagley.
»Brüllen Sie nicht so. Ich bin nicht taub.« Stirnrunzelnd sah er Bree an. »Wenn man ein bisschen in die Jahre gekommen ist, meint jeder, er müsse einen anschreien.«
»Das ist Miss Winston-Beaufort, Bobby Lee!«, fuhr Mrs. Bagley mit unverändert lauter Stimme fort. »Und Mr. …?«
»Dent. William Dent.« Er räusperte sich. »Schön, Sie … kennenzulernen, Bobby Lee.« Dent trat vor und stellte sich vor dem alten Mann auf, als erwarte er eine Urteilsverkündung.
Bobby Lee stützte sich mit beiden Händen auf seinen Krückstock und reckte den Hals wie eine Schildkröte vor, um Dent mit zusammengekniffenen Augen zu betrachten. »Dent«, sagte Bobby Lee schließlich. »Freut mich ebenfalls, Mr. Dent. Auch wenn ich noch gar nicht weiß, was Sie hergeführt hat.«
»Ich bin Mr. Dents Rechtsanwältin«, schaltete sich Bree ein. »Wir sind hier, weil Mr. Dents Vater vor kurzer Zeit gestorben ist und meinen Klienten gebeten hat, etwas für ihn zu erledigen.«
»Um fünf gibt’s Abendessen«, sagte Bobby Lee. »Wird doch wohl nicht so lange dauern, dass ich das verpasse, oder?«
»Glaub ich nicht.«
»Gut. Dann zischen Sie ab, Bagley.« Er scheuchte sie mit der Hand weg. »Na los.«
»Dann werd ich mal«, sagte Mrs. Bagley. »Drücken Sie einfach auf den Summer dort, wenn Sie mich brauchen.«
Bree nickte dankend.
Das Zimmer war spärlich, aber ausreichend möbliert. In einer Ecke standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Der Fernseher thronte auf einer Kommode. Nur das Krankenhausbett passte nicht so recht zur übrigen Einrichtung. Neben ihm stand ein fahrbarer Ständer zur intravenösen Verabreichung von Medikamenten. Am Fuße des Bettes hing ein Klemmbrett mit Krankenblatt.
»Achten Sie nicht auf dieses Zeug«, sagte Bobby Lee. »Manchmal wird mir ein bisschen schwindlig, dann bekomm ich einen Tropf. Setzen Sie sich an den Tisch da drüben.« Verwirrt blickte er im Zimmer umher. »Wollen Sie einen Kaffee? Viel kann ich Ihnen leider nicht anbieten.«
»Nein danke.« Bree nahm auf einem der Stühle Platz. Sie bedauerte, dass sie für den alten Knaben nichts dabeihatte.
»Ich hab Ihnen was mitgebracht«, sagte Dent verlegen. Er kramte in der Tasche seines Sportsakkos herum und holte mehrere Schokoriegel heraus.
»Mensch!«, sagte Bobby Lee. »So was hab ich seit Jahren nicht gegessen!« Er setzte sich in seinen Sessel und legte sich die Schokoriegel auf den Schoß. »Das Problem bei diesen Schokoriegeln ist allerdings, dass man sie nicht gut kauen kann, wenn man falsche Zähne hat. Na, dann werde ich sie eben lutschen. Mann, der Zucker in diesen Dingern hat mich immer wach gehalten, wenn ich Nachtschicht hatte.«
»Ja«, erwiderte Dent. »Mich auch.«
Bobby Lee legte den Kopf schief. »Waren Sie auch bei der Polizei, mein Sohn?«
»Vor Jahren«, sagte Dent. »Bin pensioniert. Bobby Lee, wir sind wegen verschiedener Dinge hier. Ich habe mir im Auftrag des Dezernats ein paar Uraltfälle vorgenommen. Wir würden gern wissen, ob Sie sich noch an den Fall Haydee Quinn erinnern.«
»Danach hat mich auch diese hübsche Farbige gefragt, die vor ein paar Monaten hier war«, sagte Bobby Lee. »Den Nachrichten zufolge hat man ihre Leiche heute Vormittag aus dem Savannah gezogen.« Er machte ein trauriges Gesicht. »Letzten Sonntag hab ich sie angerufen, weil ich etwas für sie hatte, das ihr vielleicht weitergeholfen hätte. Daran hätte ich schon früher denken müssen, aber ich bin ziemlich vergesslich geworden.« Er zupfte an seiner Unterlippe herum. »Es ist, als wäre mein Gedächtnis ein mit Bleistift beschriebenes Blatt, auf dem jemand einzelne Stellen wegradiert.«
Vor Aufregung bekam Bree
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