Gerechtigkeit fuer Igel
immer entscheiden, ob ein geteilter interpretativer Begriff vorliegt oder eventuelle Uneinigkeiten rein illusorisch sind, und in Fragen der Gerechtigkeit scheint offensichtlich, welche dieser beiden Annahmen überzeugender ist. Im Namen der Gerechtigkeit bestreiten wir Wahlkämpfe und führen sogar echte Kriege, und die Vorstellung, daß wir, wenn wir nur gründlich über die Bedeutung dieses Wortes nachdächten, feststellen würden, daß eigentlich keine Meinungsverschiedenheit vorliegt, ist offensichtlich falsch. Nur weil wir einen interpretativen Begriff der Gerechtigkeit miteinander teilen, können wir die in der Politischen Philosophie diskutierten Theorien der Gerechtigkeit als konkurrierende Konzeptionen desselben Begriffs verstehen. Den Vertretern des Utilitarismus und anderer Formen des Konsequentialismus zufolge geht es in den Praktiken, in denen Gerechtigkeitsansprüche erhoben werden, um das Glück der Allgemeinheit oder ein anderes erstrebenswer
277 tes Gut. Kantianer vertreten eine gänzlich andere Interpretation. Obwohl die an Debatten über die allgemeine Gesundheitsvorsorge beteiligten Politiker keine ausgebildeten Politischen Philosophen sind und nicht unbedingt explizit interpretativ argumentieren, können wir ihre Behauptungen als Interpretation rekonstruieren, indem wir die Gerechtigkeitstheorien herausarbeiten, die ihnen bei genauerem Hinsehen zugrunde liegen, und diese als spezifische Deutungen jener gemeinsamen Praxis des Beurteilens von Institutionen, Menschen und Handlungen als gerecht oder ungerecht verstehen. Andernfalls müßten wir die vollkommen absurde Annahme vertreten, daß die schärfsten und leidenschaftlichsten politischen Debatten im Grunde nur auf einem Mißverständnis beruhen.
Können die interpretativen Auseinandersetzungen um den Begriff der Gerechtigkeit aber eine allzu enge Zirkularität vermeiden? Im siebten Kapitel ist es mir relativ leichtgefallen, meine Werttheorie zu plausibilisieren, weil es dort um Interpretationsgegenstände ging, die selbst keine Werte sind – etwa Gedichte oder historische Epochen. Ein Gesetz so zu interpretieren, daß es dem Wert der Gleichheit dient, ist nicht offensichtlich zirkulär. Moralische Begriffe beziehen sich aber ihrerseits auf Werte. Wie kann man herausarbeiten, um welchen Wert es in Praktiken der Gerechtigkeit geht, ohne sich dabei bereits wenig hilfreich auf die Idee der Gerechtigkeit selbst zu beziehen? Im Rahmen meiner Erörterung der moralischen Verantwortung im sechsten Kapitel habe ich eine Antwort auf diese Frage angedeutet. Um eine bestimmte Konzeption der Gerechtigkeit argumentativ zu verteidigen, betten wir die Praktiken und paradigmatischen Fälle, die mit diesem Begriff verbunden sind, in ein umfassenderes Netzwerk anderer Werte ein, das unsere spezifische Konzeption dann stützt. Eine solche Argumentation können wir im Prinzip immer weiter ausbauen, indem wir mehr und mehr Werte genauer in den Blick nehmen, bis wir wieder zu jenem ersten zurückkehren. Wenn es hier also überhaupt einen Zirkel gibt, dann umfaßt dieser
278 die gesamte Sphäre der Werte. Genauso geht man auch im Rahmen der formalen Politischen und Moralphilosophie vor, etwa in Form des Gesellschaftsvertrags oder der Idee eines idealen Beobachters. Am Ende dieses Kapitels werde ich Ihnen mit den moralphilosophischen Ansätzen von Platon und Aristoteles sehr viel detailliertere Beispiele dieser Methode vorstellen. Noch größere Überzeugungskraft kommt hoffentlich meinen Ausführungen weiter hinten in diesem Buch zu – insbesondere meiner im elften Kapitel ansetzenden Analyse moralischer Begriffe und meiner im 15. Kapitel beginnenden Erläuterung politischer Begriffe. Der Idee des interpretativen Begriffs kommt für die eigentliche Hauptthese dieses Buches, die Einheit der Werte, eine große und offensichtliche Bedeutung zu.
Begriffe und ihr Gebrauch
Obwohl meine Unterscheidung zwischen kriteriumsabhängigen, interpretativen und sich auf natürliche Arten beziehenden Begriffen durch ihre Verwendungsweise gerechtfertigt ist – also dadurch, wie wir mit ihnen umgehen und auf sie reagieren –, gehört sie nicht zur Verwendungsweise selbst, sondern ist eine Interpretation derselben. Nur wenige Menschen, die den Begriff »Demokratie« verwenden, würden die Ansicht vertreten, daß die Bedeutung dieses Begriffs davon abhängt, welche Politische Theorie die beste Rechtfertigung der paradigmatischen Anwendungsfälle dieses Begriffs darstellt. Die
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