Gerechtigkeit fuer Igel
voneinander diskutieren, da sie unterschiedliche philosophische Fragen aufwerfen.
Vorab noch ein Wort zu dem Begriff, unter dem ich die beiden Prinzipien zusammenfasse. Die Idee der Würde ist durch übermäßigen und falschen Gebrauch stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie taucht immer wieder in Menschenrechtserklärungen und Verfassungstexten auf, und auf noch willkürlichere Weise wird sie in politischen Manifesten gebraucht. Oft wird sie beinahe gedankenlos entweder als Pseudoargument oder
347 mit dem Ziel der Emotionalisierung verwendet, etwa wenn im Rahmen von Kampagnen gegen pränatale Eingriffe bei genetischen Erkrankungen von einem Angriff auf die Menschenwürde gesprochen wird, wenn Ärzte versuchen, eine Krankheit oder eine Fehlfunktion in einem Fötus zu heilen oder zu beheben.
12 Dennoch wäre es eine Schande, aufgrund dieser Verfälschungen jene wichtige Idee oder auch nur das geläufige Wort aufzugeben. Vielmehr sollten wir die Situation als Herausforderung betrachten und versuchen, auf vernünftige Weise eine klare und überzeugende Konzeption der Würde zu entwickeln. Mein eigener Vorschlag beruht auf den beiden eben erläuterten Prinzipien. Er ist nicht unkontrovers, weil der Begriff der Würde interpretativ ist, so wie viele der anderen Begriffe auch, die eine Rolle in meinem ausgedehnten Argumentationsgang spielen.
In späteren Kapiteln dieses Buches werde ich über die Idee der Würde den Inhalt der Moral bestimmen: Handlungen sind moralisch falsch, wenn sie einen Angriff auf die Würde anderer darstellen. Andere Philosophen – insbesondere Thomas Scanlon – sind der Auffassung, daß wir andersherum argumentieren sollten: Eine Handlung ist ein Angriff auf die Würde, wenn und weil sie in einer anderen Hinsicht moralisch falsch ist.
13 Mir ist nicht ganz klar, als wie groß sich dieser Unterschied erweisen wird, sobald uns eine genauere Konzeption der Würde zur Verfügung steht. So vertritt Scanlon die Ansicht, daß eine Handlung moralisch falsch ist, wenn sie gegen ein Prinzip verstößt, das niemand vernünftigerweise zurückweisen kann. Wenn die Tatsache, daß ein Prinzip mein eigenes Leben nicht als intrinsisch wertvoll anerkennt oder mir nicht das Recht zuspricht, mich selbst für bestimmte Werte zu entscheiden, immer und automatisch ein Grund ist, es zurückzuweisen, dann stimmen die beiden Ansätze miteinander überein. In meinem Ansatz spielt die Idee der Würde eine tragende Rolle, da es unser interpretatives Projekt erleichtert, wenn wir weithin geteilte ethische Prinzipien unter einen Oberbegriff bringen können.
348 Selbstachtung
Die beiden von mir beschriebenen Prinzipien mögen in ihrer abstrakten Formulierung als selbstverständlich erscheinen. Ob sie aber als ethische Imperative oder anders gesagt: als konkrete Voraussetzung einer gelungenen Lebensführung wirklich Kraft entfalten können, ist alles andere als klar. Beginnen wir mit dem Prinzip der Selbstachtung. Es besagt, daß ich eine gelungene Lebensführung als objektiv wichtig begreifen muß. Ich muß also anerkennen, daß mich nicht darum zu kümmern, wie ich mein Leben führe, falsch wäre. Es geht mir hier nicht um eine Neuformulierung des klassischen Gedankens, daß das Leben einer jeden Person intrinsischen und gleichen Wert hat. Was diese orthodoxe Auffassung genau bedeutet, ist meines Erachtens nicht ganz klar. Als Aussage über den Produktwert von Menschen verstanden müßten wir diese Behauptung zurückweisen. Die Welt wird nicht dadurch besser, daß mehr Menschen in ihr leben – jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem es sie wohl verbessern würde, wenn mehr großartige Bilder gemalt werden würden. Aber auch wenn wir jenen Gedanken so interpretieren, daß jedes Leben denselben Leistungswert hat, wäre er falsch. Viele Leben haben kaum Leistungswert, und die Behauptung, daß alle denselben haben, ist offensichtlich falsch.
Üblicherweise behandeln wir dieses Prinzip des gleichen Werts in der Praxis nicht als ethisches, sondern als moralisches Prinzip, das sich darauf bezieht, wie man mit anderen Menschen umgehen sollte. Es verlangt, jedes Menschenleben als unverletzlich zu begreifen und niemanden so zu behandeln, als sei sein Leben weniger wichtig als das irgendeines anderen. Manchmal wird in der Philosophie versucht, mit dem Prinzip des gleichen Werts allen menschlichen Lebens bestimmte weitergehende Thesen zu stützen, wie etwa die, daß die Bewohner reicher Staaten einen Teil ihres Vermögens
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