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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Aufmerksamkeit. Aber strenggenommen setzt das keine kausale Wirksamkeit voraus. Vorausgesetzt wird allein, was in der Logik als materiale Implikation bezeichnet wird. Wenn ich entscheide, den Ab
421 zug zu betätigen, wird jemand sterben, wenn kein anderer Akteur eingreift; wenn ich das nicht tue, wird er nicht sterben. Mir kann die Wahrheit solcher Konditionalaussagen aus der eigenen Erfahrung vertraut sein, ohne irgendwelche Annahmen über die kausale Einwirkung meiner Entscheidung auf meine Muskeln zu machen, die meinen Finger den Abzug ziehen lassen. Diese Konditionalaussagen sind sowohl mit dem Epiphänomenalismus als auch mit dem Determinismus vereinbar. Und natürlich sind sie auch damit vereinbar, daß man beide zurückweist.
    Das Fähigkeitenprinzip sieht Ausnahmen vor für Fälle, die es als pathologisch behandelt: Reflexive Verantwortung wird an die Bedingung gekoppelt, daß der Handelnde über bestimmte Fähigkeiten verfügt. Aber das sind keine kausalen Bedingungen. Das Prinzip betrachtet Fähigkeiten als wesentlich für Verantwortung, nicht weil normale Menschen über einen Willen verfügen, der die Kontrolle hat, während das bei Kindern, geistig Minderbemittelten und Verrückten nicht der Fall ist, sondern weil es Verantwortung mit Blick auf die übergeordnete ethische Verantwortung dafür, ein gelungenes Leben zu führen, an Bedingungen koppelt. Diese Aufgabe wird nur dann als Aufgabe für eine Person betrachtet, wenn diese dazu in der Lage ist, sie auch zu erfüllen. Kleinkinder, geistig Minderbemittelte und Verrückte treffen Entscheidungen und tun das vielleicht sogar mit einem gewissen Gefühl, für sie verantwortlich zu sein. Aber im Rückblick sollten die Betroffenen die reflexive Verantwortung für diese Entscheidungen zurückweisen, wenn sie erwachsen oder wieder gesund sind, und der Rest von uns sollte das schon jetzt tun. Wir sind der Ansicht – und diese Ansicht wird zumindest vom Kleinkind später auch vertreten werden –, daß es richtig wäre, diese Entscheidungen in der Antwort auf die Frage, ob es sich um ein gelungenes Leben gehandelt hat, nicht zu berücksichtigen. Wenn wir das Fähigkeitenprinzip als ethische Grundlage des Systems der Verantwortung akzeptieren, dann können wir den neuesten Entdeckungen über die Elek
422 trodynamik unseres Gehirns mit grenzenloser Neugier, aber ohne Schrecken entgegensehen.
    In dieser Erzählung gibt es keine Täuschung. In meiner Beschreibung der Rolle des Fähigkeitenprinzips in der Zuschreibung oder Abstreitung von Verantwortung werden keinerlei letzte kausale Annahmen gemacht. Mit Sicherheit halten viele Menschen, die das System der Verantwortung akzeptieren, sowohl den Determinismus als auch den Epiphänomenalismus für falsch, ja für absurd. Sie meinen, daß es nicht vorherbestimmt ist, was sie für die beste Handlung halten werden; dies ist eine Frage der spontanen Verfertigung der Entscheidung hier und jetzt. Ob diese weiterführende Überlegung kohärent ist, spielt für meine Geschichte an dieser Stelle jedoch keine Rolle. Wir sind nicht wie Gehirne im Tank. Diese leben in vollkommener Unwissenheit über ihre Situation; sie haben keine Möglichkeit, etwas über sie herauszufinden. Ihnen fehlt jegliche Fähigkeit, Meinungen auf der Basis von Evidenzen zu bilden. Die meisten von uns verfügen über diese Fähigkeit in hohem Maße; tatsächlich nehmen wir nun an, daß wir sogar die Fähigkeit haben herauszufinden, daß alle unsere Entscheidungen durch vergangene Ereignisse determiniert werden. Wir leben nicht in vollständiger oder abschließender Unwissenheit.
    Hier ist noch eine Herausforderung. Man könnte sagen, daß Menschen nie über die Fähigkeiten verfügen würden, die das Fähigkeitenprinzip der Kontrolle ihnen normalerweise zuschreibt, wenn Determinismus oder Epiphänomenalismus wahr wären, weil diese Fähigkeiten eine Art letzten kausalen Ursprung oder eine entsprechende Macht voraussetzen. Tatsächlich setzen sie aber nichts dergleichen voraus. Die erste Fähigkeit ist die Fähigkeit, wahre Meinungen über die physikalische Welt und die mentalen Zustände anderer Menschen zu bilden. Diese Fähigkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß unsere Meinungen über die Welt durch Ereignisse verursacht werden, die sich unserer Kontrolle entziehen; wie ich bemerkt habe, ist es vielmehr gerade diese Tatsache, der wir diese Fähig
423 keit verdanken. Auch daß unsere endgültigen Entscheidungen nicht in einer kausalen

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