Gerechtigkeit fuer Igel
bestätigen. Wir müssen unsere Prinzipien als nur parallel zu lösende Gleichungen betrachten.
An dieser Stelle könnte man einwenden, daß es nicht fair ist, von Anfang an nach Interpretationen der beiden Prinzipien zu suchen, die nicht miteinander in Konflikt stehen. Ehrlicher wäre es, sich einfach um die richtigen Interpretationen zu bemühen und falls diese miteinander in Konflikt stehen, das einfach als unser Schicksal zu akzeptieren. Dieser Einwand ignoriert den bisher in diesem Buch entfalteten Gedankengang. Ethische Urteile sind nicht schlicht wahr. Sich um das richtige Verständnis jener Prinzipien zu bemühen bedeutet meinem Ansatz zufolge, jeweils ein Verständnis zu suchen, das durch unsere Interpretation des jeweils anderen Prinzips bestätigt wird und uns außerdem richtig zu sein scheint. Nur wenn wir jeden Bestandteil eines Systems sich wechselseitig stützender Prinzipien für richtig halten, können wir davon ausgehen, daß sie zusammengenommen überzeugend sind.
Unsere Aufgabe ist schwierig und der Erfolg keineswegs gesichert. Es ist nicht besonders schwer, klare Verstöße gegen eines der Prinzipien zu erkennen. Dem Leiden oder Scheitern einer anderen Person mit Gleichgültigkeit zu begegnen bedeutet, ihr Leben nicht als wichtig zu erachten, sie dazu zu zwingen, den Ritualen einer Religion, der sie sich nicht angeschlossen hat, zu folgen, ist ein Affront gegen ihre ethische Verant
447 wortung. In den nächsten Kapiteln wird es aber um sehr viel schwierigere und kontroversere Fragen gehen. Wann handelt es sich bei dem Versäumnis, einer fremden Person zu helfen, um Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leben? Spielt die Anzahl der eventuell betroffenen Menschen bei der Frage, was wir tun sollen, eine Rolle und, wenn ja, welche? Welche relevanten Unterschiede gibt es dazwischen, jemanden zu töten und jemanden sterben zu lassen? Warum sollen wir unsere Versprechen halten? Sind wir den Mitgliedern unserer eigenen politischen Gemeinschaft mehr Hilfe schuldig als anderen? Wir müssen also versuchen, konkretere Interpretationen jener zwei Prinzipien herauszuarbeiten, indem wir unsere Untersuchung immer weiter ausdehnen; und jene Interpretationen können wir dann überprüfen, indem wir sie in anderen Kontexten erproben.
Wir können dabei nicht auf ein klar umrissenes Entscheidungsverfahren zurückgreifen. Obwohl jeder von uns letztlich zu Ergebnissen kommen wird, denen andere nicht zustimmen, gibt es einen Maßstab, den wir alle anlegen können: Bestätigen sich die Interpretationen der Selbstachtung und der Authentizität, zu denen wir auf diese Weise gelangen, wechselseitig, so daß kein Kompromiß in einer dieser beiden Dimensionen der Würde notwendig ist? Können wir diese Interpretationen guten Gewissens beide als überzeugend akzeptieren? Die Herausforderung, vor der wir stehen, ähnelt in mancher Hinsicht John Rawls' Methode des Überlegungsgleichgewichts, ist aber anspruchsvoller und auch risikoreicher. Rawls zielte auf eine Art von Integrität zwischen abstrakten und konkreten Gerechtigkeitsüberzeugungen ab, die im Verhältnis der verschiedenen Werte jedoch durchaus Raum für Unterordnung, Kompromiß und Balance läßt. So bestand er etwa auf dem »lexikalischen Vorrang« der Freiheit vor der Gleichheit. Es ging ihm nicht darum, jeden Wert so im Lichte der anderen zu interpretieren, daß sie einander wechselseitig bestätigen, anstatt sich in Frage zu stellen. Dieser Unterschied ist Ausdruck einer tieferliegenden Differenz. Unsere Vorgehensweise geht auf eine Theorie der
448 moralischen und interpretativen Wahrheit zurück, die ich im siebten und achten Kapitel entwickelt habe – ein Thema, mit dem sich Rawls nicht beschäftigt hat. Selbst wenn wir Rawls' Methode so interpretieren, daß ihr eine ethische Dimension zukommt – wofür ich etwas weiter unter in diesem Kapitel plädieren werde –, ist die Bandbreite an Werten, die er in ein Gleichgewicht bringen wollte, doch sehr viel kleiner als die derjenigen Werte, die für die hier verhandelte Fragestellung relevant sind. Im Verlauf seiner philosophischen Entwicklung ging er zunehmend dazu über, über im strikten Sinne als politisch zu verstehende Fragen hinausgehende Themen einzuklammern. Weil aber das hier vorgeschlagene Projekt der Interpretation eine zentrifugale Kraft entwickelt, kann ich das nicht tun und muß im Gegenteil versuchen, eine möglichst umfassende Theorie zu konstruieren, nicht aus einer Neigung zu Komplexität
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