Gerechtigkeit fuer Igel
heraus, sondern aus philosophischer Notwendigkeit. Wahrheitstheoretische, sprachphilosophische und metaphysische Überlegungen müssen mit den anerkannteren Wertsphären verbunden und gewissermaßen in sie eingebettet werden. Wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind, lehnen wir uns nun beide weit aus dem Fenster – vielleicht denken Sie, daß wir bereits hinausgefallen sind, aber wenn nicht, wird sich jetzt zeigen, wie sicher wir stehen.
Weitere moralphilosophische Ansätze
Kant
Bevor ich mich daranmache, jene Liste von Problemen abzuarbeiten, will ich kurz innehalten, um einen anderen Faden aufzugreifen. Ergänzend zu meinem eigentlichen Projekt geht es in diesem Buch auch darum, inwiefern eine interpretative Konzeption der Moral dazu beitragen kann, die bedeutenden Klassiker der Moralphilosophie besser zu verstehen. Im achten Ka
449 pitel habe ich versucht zu zeigen, daß Platon und Aristoteles explizit interpretativ vorgehen und ebenfalls auf eine Integration von Ethik und Moral hinarbeiten, und zum Abschluß dieses Kapitels werde ich darauf eingehen, ob auch andere Philosophen auf diese Weise neu gelesen werden können, selbst wenn sie nicht in derselben Weise explizit interpretativ vorgehen.
Die erfolgreichsten philosophischen Theorien verdanken ihren Einfluß nicht primär der Überzeugungskraft oder der Schlüssigkeit ihrer Argumente, sondern der Wirkung, die ihre Schlußfolgerungen auf unsere Einbildungskraft haben, und den Metaphern, in denen jene präsentiert werden – das gilt mit Sicherheit für die Rezeption in der breiten Bevölkerung, trifft aber auch innerhalb der Philosophie zu. Platons Höhle und Rawls' Urzustand sind meines Erachtens gute Beispiele für dieses Phänomen; am deutlichsten wird es aber bei Kant. Die von ihm propagierten sehr allgemeinen Prinzipien – zum Beispiel, daß wir nie gemäß einer Maxime handeln dürfen, von der wir nicht vernünftigerweise wollen können, daß alle sie ihrem Handeln zugrunde legen – hatten selbst unter jenen akademischen Philosophen einen enormen Einfluß, die viele seiner konkreteren Auffassungen ablehnen. Seine kraftvolle Ermahnung, daß wir andere Menschen als Zwecke und niemals bloß als Mittel zu behandeln haben, wird tagtäglich in rechtlichen und moralischen Auseinandersetzungen in großen Teilen der Welt wiederholt. Meines Erachtens sind aber die Argumente, die er für diese so einflußreichen Prinzipien vorbringt, vergleichsweise schwach; und unter den vielen Menschen, die jene Prinzipien so anziehend finden, ist kaum einer, der Kants Theorie der Freiheit und der Vernunft wirklich versteht.
Ich glaube aber, daß in seinem Werk alle Elemente einer jene Prinzipien stützenden interpretativen Argumentation enthalten sind, die sehr viel zugänglicher wäre. Ich habe nicht vor, hier etwas zur beeindruckenden Fülle der bereits vorhandenen Kant-Exegesen beizutragen (und wäre dazu auch gar nicht in der Lage); statt dessen möchte ich eine Lesart Kants auf der
450 Grundlage der in diesem Buch vorgeschlagenen Methoden anbieten (und dabei viele ebenfalls in seinen Schriften enthaltene Elemente außen vor lassen). Diese Lesart setzt bei der Ethik an, genauer: bei ethischen Forderungen, die den beiden Prinzipien der Würde entsprechen, die hier bereits etabliert wurden. Kants »Prinzip der Menschheit« betrifft in erster Linie die Art und Weise, in der wir uns selbst und unseren Zielen einen Wert zuschreiben müssen: Wir müssen uns selbst und unsere Ziele als objektiv und nicht bloß als subjektiv wichtig erachten. Wie von unserem ersten Prinzip gefordert, müssen wir davon ausgehen, daß es objektiv wichtig ist, wie unser Leben verläuft.
Hieraus läßt sich ableiten, was ich als das Kant'sche Prinzip bezeichnet habe: Wenn der von Ihnen in Ihrem Leben gefundene Wert objektiv ist, dann muß es sich dabei um den Wert der Menschheit selbst handeln. Denselben objektiven Wert müssen Sie also dem Leben aller anderen Personen zuerkennen. Weil Sie sich selbst als Zweck an sich behandeln müssen, müssen Sie aus Selbstachtung auch alle anderen Menschen als Zwecke an sich behandeln. Selbstachtung erfordert außerdem, daß Sie sich selbst als im folgenden Sinn autonom betrachten: Sie müssen die Werte, an denen Ihr Leben ausgerichtet ist, selbst für richtig halten. Das entspricht unserem zweiten Prinzip: Sie müssen selbst beurteilen, welche Lebensweise für Sie die richtige ist und sich gegen jede Art von Zwang wehren, die darauf abzielt, diese
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