Gerechtigkeit fuer Igel
wird, dennoch heute der ersten Organisation spenden.
476 Zählen Zahlen?
Wenden wir uns nun dem zweiten der oben unterschiedenen Szenarien zu. Nehmen wir an, daß viele Menschen Ihre Hilfe benötigen und es offensichtlich falsch wäre, sie alle zu ignorieren. Sie wären zwar in der Lage, einigen von ihnen zu helfen, können dann jedoch nichts für den Rest tun. Wie sollten Sie entscheiden, wem Sie helfen? Hier gibt es einen paradigmatischen Fall – eine Variante des Beispiels der ertrinkenden Schwimmerin. Eine Person hält sich, nachdem ihr Boot im Sturm gekentert ist, an einem Rettungsring fest; um sie herum schwimmen Haie. Zwei weitere Passagiere hängen in hundert Meter Entfernung ebenfalls an einem Rettungsring; auch sie werden von Haien eingekreist. Sie haben ein Boot, das am Strand liegt. Einen der beiden Rettungsringe können Sie rechtzeitig erreichen, nicht aber den anderen. Nehmen wir an, Sie kennen keinen der drei Menschen – sind Sie in diesem Fall verpflichtet, die beiden Schwimmer zu retten und den einzelnen Schwimmer seinem Tod zu überlassen?
Das ist natürlich eine bizarr konstruierte und hypothetische Situation, die unsere Aufmerksamkeit auf ein philosophisches Problem lenken soll, ohne uns durch allzuviel Realismus abzulenken. Es gibt jedoch zahlreiche reale Fälle, die uns vor dasselbe Problem stellen. Einen davon habe ich eben beschrieben: Es gibt ganze Kontinente von Menschen, deren Leben durch Armut und Krankheit geprägt ist. Obwohl es heute nicht mehr möglich ist, dieses Elend ohne Scham zu ignorieren, können die meisten von uns nur einem sehr kleinen Teil der Bedürftigen helfen. Wenn wir uns nun verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen vorstellen, die in unterschiedlichen Staaten Afrikas aktiv sind, müssen wir dann derjenigen spenden, die unseres Erachtens die meisten Menschenleben retten wird?
Es wird weithin angenommen, daß wir in solchen Fällen eine Pflicht haben, so vielen Menschen wie möglich zu helfen (wenn wir überhaupt eine Hilfspflicht haben), zumindest
477 wenn allen ein vergleichbarer Schaden droht. Das würde bedeuten, daß wir die zwei Schwimmer vor den Haien retten müssen statt den einen und daß wir derjenigen Organisation spenden müssen, die mit unserem Beitrag unseres Erachtens die meisten Menschenleben retten wird. Dies scheint die richtige Lösung zu sein – aber nur, wenn wir die von mir bereits zurückgewiesene unpersönliche Perspektive einnehmen, die von einem wohlfahrtskonsequentialistischen Imperativ ausgeht. Vor jenem Hintergrund könnten wir zum Beispiel argumentieren, daß zwei statt ein Leben zu retten das allgemeine Wohlergehen steigern wird.
Wenn wir diese Entscheidung aber aus einer anderen Perspektive angehen – indem wir den Fokus auf Rechte statt auf Konsequenzen richten –, ist keineswegs klar, daß wir automatisch die größere Anzahl Leben retten sollten. Wir könnten zum Beispiel auch jedem Opfer ein gleiches vorgängiges Recht gerettet zu werden zuschreiben und daher eine Art Losentscheid für angemessen halten, in dem alle drei zumindest eine Ein-Drittel-Chance hätten.
12 (Angenommen, die Haie würden zustimmen, so lange ihre Runden zu drehen, wie wir dafür brauchen.)
Welche Herangehensweise ist die richtige? Auf welche dieser beiden Weisen sollte man Zahlen berücksichtigen: im Rahmen einer konsequentialistischen Analyse oder indem man von einem Recht auf Gleichbehandlung ausgeht? In der Philosophie ist diese Frage bis zur Erschöpfung diskutiert worden, aber der hier vorgeschlagenen interpretativen Sichtweise zufolge sind beide falsch. Der konsequentialistische Imperativ wurde bereits zurückgewiesen und wir können ihn nicht einfach wiederbeleben, um unsere eventuelle Überzeugung zu rechtfertigen, daß wir eher die größere als die kleinere Anzahl Menschen retten sollten. Desgleichen haben wir jede Grundlage dafür zurückgewiesen, daß jeder Mensch, dem wir helfen könnten, damit automatisch bereits ein Recht auf unsere Hilfe hat. Dieses Recht kommt ihm nur zu, wenn in der konkreten
478 Situation seiner Not gleichgültig gegenüberzustehen Ausdruck einer mangelnden Achtung für die objektive Wichtigkeit seines Lebens wäre. Wenn Sie den einsamen Schwimmer widerwillig sterben lassen, um die beiden anderen Menschenleben retten zu können, haben Sie keineswegs die Wichtigkeit des menschlichen Lebens vernachlässigt.
Nehmen wir an, Sie treffen die umgekehrte Entscheidung, retten den einzelnen Schwimmer und lassen die
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