Gerechtigkeit fuer Igel
Auffassungen dieser Werte – unserer eigenen Überzeugungen über die von ihnen benannten konkreten politischen Rechte – vorzugehen haben. Die angemessene Verteilung des Wohlstands in privates und kollektives Eigentum folgt aus der Verpflichtung der Gemeinschaft, das Leben eines jeden Mitglieds mit gleicher Berücksichtigung zu behandeln. Für eine Gemeinschaft, die das erste Prinzip der Würde akzeptiert, ist eine Theorie der ökonomischen Gleichheit einfach eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit: die beiden Begriffe sind identisch. Für eine Gemeinschaft, die das zweite Prinzip akzeptiert, muß eine Konzeption der Freiheit die richtige Art von Achtung vor der Verantwortung einer jeden Person zum Ausdruck bringen, selbst zu bestimmen, was Erfolg in ihrem Leben bedeutet, und danach dann zu streben. Eine Konzeption der Freiheit umfaßt daher eine Konzeption dieser Art von Verantwortung. Die Verteilung politischer Macht muß also in solchen Gemeinschaften jene beiden Prinzipien widerspiegeln: Die Struktur und die Entscheidungen der Regierung müssen der gleichen Wichtigkeit der Menschen und ihrer persönlichen Verantwor
592 tung Rechnung tragen. Eine Konzeption der Demokratie besagt, welche politischen Strukturen und Praktiken diese Herausforderung am besten zu meistern in der Lage sind. Weil wir jene beiden Prinzipien nicht als konfligierend, sondern als sich wechselseitig stützend interpretieren wollen, müssen wir versuchen, Auffassungen der Gleichheit, der Freiheit und der Demokratie zu entwickeln, die sich ebenfalls wechselseitig stützen.
Diese Herangehensweise an politische Rechte unterscheidet sich signifikant von dem häufig als historisch bezeichneten Ansatz. Manche Philosophen – Isaiah Berlin und Bernard Williams sind prominente Beispiele aus der jüngeren Zeit – haben die Auffassung vertreten, daß wir das Wesen und die Kraft politischer Begriffe wie »Freiheit« erst dann begreifen können, wenn wir einen historisch vermittelten Sinn dafür erlangen, was sie für unsere politischen Vorläufer bedeutet haben.
15 In einer Hinsicht ist die von mir empfohlene Herangehensweise historisch: Es ist nur dann richtig, Freiheit, Gleichheit und Demokratie als interpretative Begriffe zu behandeln, wenn sie als solche fungieren; und die Frage, ob sie das tun, hat eine historische Dimension. Auf diese Weise spielt die Geschichte für die Interpretation eine Rolle, sie legt die Interpretation aber nicht fest.
Damit will ich jedoch nicht sagen, daß ein Begriff nur dann interpretativ ist, wenn diejenigen, die ihn verwenden, ihn auf diese Weise verstehen. Wie ich bereits bemerkt habe, verfügen nur wenige Menschen über den Begriff eines Begriffs, vom Begriff eines interpretativen Begriffs ganz zu schweigen. Entscheidend ist, ob die Annahme, daß es sich um einen interpretativen Begriff handelt, die bestmögliche Interpretation der Verwendungsweise eines Begriffs im Lauf der Geschichte ist – also der Art und Weise, wie Menschen mit entsprechender Einigkeit und Uneinigkeit umgegangen sind. Wenn es aber stimmt, daß jene zentralen politischen Begriffe interpretativ sind, dann kann die Geschichte kein privilegierter Leitfaden
593 dafür sein, wie man sie am besten auslegen sollte. Die Tatsache, daß viele Menschen in der jüngeren Vergangenheit zu dem Ergebnis gekommen sind, daß Steuern die Freiheit einschränken oder daß unter Demokratie die absolute Herrschaft der Mehrheit zu verstehen ist, bedeutet nicht, daß eine anderslautende Interpretation falsch ist. Es ist durchaus möglich, daß sich diese Menschen getäuscht haben, und meines Erachtens ist das tatsächlich der Fall. Vielleicht sind die Philosophen, denen zufolge eine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen durch und durch historisch zu sein hat, auch einfach der Ansicht gewesen, daß diese Begriffe kriteriumsabhängig sind. Wenn dem so sein sollte, dann ist allerdings ihr Ansatz unhistorisch und nicht der meine.
594 Kapitel 16
Gleichheit
Philosophie und Scham
Armut ist ein seltsames Thema für philosophische Reflexion; es scheint eher nach Entrüstung oder Aktivismus zu verlangen. In vielen reichen Ländern ist der Abstand zwischen der wohlhabenden und der armen Bevölkerung sehr viel größer, als es vertretbar ist, und in einigen, etwa den Vereinigten Staaten, vergrößert er sich zudem unerbittlich. Vor diesem Hintergrund müssen akademische Debatten in der Politischen Philosophie artifiziell und selbstverliebt wirken. Theorien der
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