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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Verteilungsgerechtigkeit schreiben fast ausnahmslos radikale Reformen jener fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften vor, in denen sie am eifrigsten studiert werden, aber ob eine solche Reform wirklich praktisch realisierbar wäre, ist fraglich. Politiker aus dem linken Spektrum versuchen mit bestenfalls begrenztem Erfolg, schrittweise kleine Verbesserungen für die unterste Bevölkerungsschicht durchzusetzen, und dringen damit politisch am ehesten durch, wenn sie nicht mehr fordern, als die besser situierte Mehrheit ohnehin zu geben bereit ist. Besonders auffällig und deprimierend ist die Lücke zwischen Theorie und Politik in multiethnischen Gemeinschaften, weil die Angehörigen der Mehrheit armen Menschen, die sich merklich von ihnen unterscheiden, nach wie vor nur mit großem Zögern zur Seite stehen.
 1 Trotzdem ist es wichtig, in guten Verhältnissen lebende Menschen weiterhin mit entsprechenden Argumenten zu konfrontieren, vor allem wenn die Legitimität des politischen Systems, das ihre komfortable Situation ermöglicht, von ihrem Egoismus bedroht wird, was meines Erachtens aktuell der Fall ist. Zumindest sollten sie nicht in dem Glauben
595 belassen werden, daß ihr Verhalten gerechtfertigt und nicht einfach eigennützig ist.
    Theorien der Verteilungsgerechtigkeit sind außerdem noch in einer anderen Hinsicht ausgesprochen artifiziell. Sie bauen in hohem Maße auf Phantasieszenarien auf, etwa wenn von fiktionalen Verträgen aus grauer Vorzeit die Rede ist, wenn Menschen, die an Gedächtnisverlust leiden, etwas miteinander aushandeln, oder wenn Versicherungspolicen diskutiert werden, die niemand jemals ausstellen oder verkaufen wird. John Rawls stellt sich zum Beispiel vor, daß wir die grundlegenden politischen Verfassungsstrukturen hinter einem opaken Schleier ausarbeiten, der vor uns verbirgt, wer wir in Wirklichkeit sind, was wir denken und welche Wünsche wir haben. In meinem eigenen Ansatz geht es um Auktionen, die auf einer einsamen Insel stattfinden und Monate dauern könnten, um zum Abschluß zu kommen. Es ist nicht zu vermeiden, daß entsprechende Theorien auf diese zweite Weise artifiziell sind. Wenn wir nicht politische Machtkämpfe als letzten Prüfstein der Gerechtigkeit betrachten wollen, müssen wir deren Forderungen auf andere Weise herausarbeiten und so deutlich machen, was die gleiche Berücksichtigung und Achtung aller tatsächlich verlangen würde. Da unser tatsächliches Wirtschaftssystem mit seiner ereignisreichen Geschichte hochkomplex und zutiefst unfair ist, kann das ohne außerordentlich kühne kontrafaktische Gedankenexperimente kaum gelingen.
    Es wäre jedoch weitaus schlimmer als einfach nur sinnlos, wenn es in der Politischen Philosophie um Gesellschaften von Engeln ginge, die weit außerhalb des Menschenmöglichen liegen, oder wenn angenommen würde, daß eine Verbesserung unserer Gemeinschaften nur auf dem Wege eines völligen Neubeginns möglich wäre – etwa durch eine Rückkehr zum Naturzustand oder den Rückzug auf eine einsame Insel, auf der wir praktischerweise den eben erwähnten Schleier oder die Chips für die erwähnte Auktion vorfinden würden. Eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit ist nur dann von Nutzen, wenn
596 sie kleine Schritte aufzeigt, mit denen wir uns in die richtige Richtung bewegen können.
 2 Wenn Philosophen Elfenbeintürme bauen, müssen sie gewissermaßen eine Rapunzel oben in den Turm setzen, die es uns ermöglicht, langsam hochzuklettern. Die Gerechtigkeitstheorien von Rawls, mir und einigen anderen Theoretikern sind vom Ökonomen Amartya Sen als »transzendental« bezeichnet und dafür kritisiert worden, nur das Alles-oder-nichts-Ziel der Vollkommenheit zu thematisieren und darüber die vergleichende Evaluation existierender politischer Systeme zu vernachlässigen. Ich halte diese Kritik für unberechtigt, wenn sie aber zutreffend wäre, wäre das ein vernichtendes Urteil.
 3
    Falsche politische Konzeptionen
    Laisser-faire
    Eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Regierung ist nur dann legitim, wenn sie versucht, das Schicksal aller von ihr regierten Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen und zudem ihre persönliche Verantwortung für ihr eigenes Leben in vollem Maße zu achten. (Edwin Baker hält diese Behauptung selbst in dieser abstrakten Formulierung für problematisch.
 4 ) Weil wahre moralische Aussagen nicht schlicht wahr sein können, müssen wir versuchen, diese beiden Forderungen auf eine Weise zu verstehen, die

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