Gerechtigkeit fuer Igel
dieses Unrecht aber alles in allem gerechtfertigt sein kann. Dann müssen wir aber erklären, warum das so ist. Wenn wir wie Mill Utilitaristen sind, denken wir vielleicht, daß jede Einschränkung, die Leid oder Frustration nach sich zieht, schädlich und daher, selbst wenn sie nötig sein sollte, bedauerlich ist. Daraus würde aber nicht folgen, daß es eine besondere Art von Schaden darstellt, jemanden an dem zu hindern, was er tun will. Jedwedes so verursachte Leid würde einfach in die ei
585 ne Spalte des Glückskalküls eingetragen, in der sich auch ganz andere Quellen des Unglücks finden, wie etwa das Versäumnis der Regierung, in öffentlichen Gebäuden Klimaanlagen anzubringen. Aus dieser Perspektive ist Freiheit nichts Besonderes.
Auch daß die Unterbindung von Vergewaltigungen eine besondere Art von Schaden darstellt, weil jede Einschränkung der Freiheit eine Verletzung der Würde ist, können wir nicht behaupten. Wenn die im 14. Kapitel vorgestellte Konzeption der politischen Verpflichtung richtig ist, ist es kein Verstoß gegen die Würde, wenn eine legitime Regierung einige ihrer Bürger vor Gewalt schützt, die andere gegen sie ausüben. Wenn wir wirklich der Meinung wären, daß ein Verbrechen unter Strafe zu stellen automatisch eine Verletzung unserer Würde ist, müßten wir einen Großteil dessen, was Regierungen gegenwärtig tun, als großes Unrecht erachten. Es wäre dann keinesfalls fair, wenn der Gemeinderat mich daran hindert, mein georgianisches Haus lila zu streichen. Da schwerlich argumentiert werden kann, daß diese Einschränkung zum Schutz der Sicherheit oder der Freiheit anderer notwendig ist, hieße das, daß meine Würde rein ästhetischen Erwägungen geopfert wird.
Gleichheit
Die Versuche, Gleichheit als kriteriumsabhängigen Begriff zu behandeln, sind mindestens ebenso erfolglos gewesen und haben dazu geführt, daß Gleichheit oft etwas geringschätzig als flache Gleichheit verstanden wird – das würde bedeuten, daß jeder sein ganzes Leben hindurch über den gleichen Wohlstand verfügen sollte –, weil keine andere Definition unter dieser Prämisse der Kriteriumsabhängigkeit plausibel scheint.
10 Heutzutage finden sich sogar liberale Denker, denen zufolge es sich bei Gleichheit gar nicht um einen wirklichen Wert handelt, weil es nicht darauf ankomme, daß Menschen über den gleichen Wohlstand verfügen, sondern daß die am unteren En
586 de nicht weniger haben, als für ein anständiges Leben notwendig ist, oder auch darum, allzu große Ungleichheit zu vermeiden oder etwas ähnliches. Diese Sichtweise ist durch eine von John Rawls' Theorie der Verteilungsgerechtigkeit ausgelöste Diskussion befördert worden. Sein »Differenzprinzip« verlangt, daß jede Abweichung von der flachen Gleichheit der »Primärgüter« eine Verbesserung der Position der Schlechtestgestellten zur Folge haben muß.
11 Ein solches Prinzip könnte unter bestimmten Umständen dafür sprechen, Menschen mit Talenten, die den allgemeinen Wohlstand fördern, höhere Einkommen anzubieten, um sie anzuregen, jene Talente auch umzusetzen, weil davon alle, und somit auch die ärmsten Bevölkerungsschichten, profitieren würden. Manche Kritiker halten das Differenzprinzip für zu wenig egalitaristisch und sind der Meinung, daß es aus vielfältigen gesellschaftlichen und persönlichen Gründen besser ist, wenn jeder über den gleichen Wohlstand verfügt und somit alle ein gemeinsames Schicksal teilen, als wenn manche reich und andere arm sind, auch wenn das dazu führen sollte, daß alle weniger materiellen Wohlstand zur Verfügung hätten.
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Viel häufiger wird aber kritisiert, daß das Differenzprinzip im Gegenteil zu egalitaristisch ist, weil nur die Schlechtestgestellten berücksichtigt werden. Dieser Sichtweise zufolge wäre es besser, wenn man sich statt dessen auf eine weniger strikte »Priorität« für die Armen einigen würde.
13 Einerseits wird zugestimmt, daß politische Maßnahmen generell die unteren Bevölkerungsschichten bevorzugen sollten. Wenn sich eine Gemeinschaft aber zwischen einer Wirtschaftspolitik entscheiden müßte, die den Wohlstand des großen Segments der Mittelschicht und der unteren Mittelschicht erheblich steigern würde, und Maßnahmen, die zur Folge hätten, daß eine kleine Gruppe von Schlechtestgestellten etwas weniger arm ist, wäre es jenen Kritikern zufolge nicht besonders klug, die zweite Strategie zu wählen. Das wäre zumindest dann der Fall, wenn die zweite
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