Gerechtigkeit fuer Igel
dieser Ansatz vor ein Dilemma: Wir sehen uns mit demselben, inzwischen vertrauten Problem konfrontiert. Ist die Demokratie im Sinne der Herrschaft der Mehrheit intrinsisch wertvoll? Das erscheint zumindest fraglich. Warum sollte die Tatsache, daß eine größere Anzahl von Menschen eine bestimmte Vorgehensweise einer anderen vorzieht, anzeigen, daß die favorisierte Option fairer oder besser ist? Hier könnte natürlich erklärt werden, daß eine Abstimmung die einzige faire Lösung ist, wenn in einem gemeinsamen Projekt engagierte Menschen sich darüber uneins sind, was getan werden sollte. Das taugt aber nicht als Fair-play-Prinzip, auf das wir immer zurückfallen können, weil es nicht automatisch richtig ist, wie ein weiteres bekanntes philosophisches Beispiel zeigt: Wenn ein Rettungsboot überfüllt ist und ein Passagier von Bord gehen muß, damit der Rest gerettet werden kann, dann scheint die Mehrheitswahl eine ziemlich schlechte Methode zu sein, um das Opfer zu bestimmen. Persönliche Bindungen und Konflikte würden eine eigentlich unzulässige Rolle spielen, so daß eine Lotterie wohl sehr viel besser geeignet wäre. Weil vergleichbare Bindungen und Konflikte auch in der Politik verzerrend wirken, und zwar in noch weit größerem Ausmaß, scheint die Idee, daß die Mehrheitswahl hier intrinsisch oder automatisch fair sein soll, zumindest dubios.
Wenn Demokratie aber Mehrheitswahl bedeutet und Mehrheitswahl nicht an sich wünschenswert ist, warum sollte es uns dann so wichtig sein, unsere Demokratie zu schützen oder sie in anderen Staaten durch alle uns zur Verfügung stehenden
590 Mittel zu stärken? Warum streiten wir uns so sehr darüber, ob judicial review demokratisch ist oder ob es demokratischer wäre, in den Vereinigten Staaten das gegenwärtige System, nach dem nur die Kandidaten mit den meisten Stimmen in das Parlament einziehen und alle anderen Stimmen verfallen, durch ein System der proportionalen Repräsentation zu ersetzen? Auf diese und hundert weitere Weisen behandeln wir die Demokratie als einen Wert, und wenn wir akzeptieren würden, daß sie das nicht ist – daß sie in keinerlei Hinsicht intrinsisch gut ist –, würde das einen Großteil unseres politischen Lebens als unsinnig entlarven.
Ein besseres Programm
Zugunsten der Standarddefinitionen der Gleichheit, der Freiheit und der Demokratie, die Mill, Rawls und die meisten Politikwissenschaftler vorschlagen, läßt sich kaum etwas sagen. Sie folgen nicht den von uns allen verwendeten Kriterien, mit denen wir egalitaristische politische Maßnahmen, liberale Gesellschaften oder demokratische Institutionen identifizieren. Es gibt solche geteilten Kriterien einfach nicht; wenn es sie geben würde, würden wir uns nicht auf die Art und Weise streiten, wie wir es tun. Manche Philosophen, die davon ausgehen, daß alle Begriffe kriteriumsabhängig sind, schließen daraus, daß Begriffe, in bezug auf die wir uns nicht einigen können, nutzlos sein müssen und wir daher ohne sie auskommen sollten. Wir sollten nicht fragen, was demokratisch ist, sondern welches Regierungssystem alles in allem besser ist; nicht ob Gleichheit oder Freiheit gut sind, sondern welche Verteilung an Ressourcen oder Möglichkeiten die beste ist. Dieser reduktionistische Ansatz führt uns jedoch in die Irre. Er ist nur für Denker von Nutzen, die bereits einer Theorie anhängen, die wie die abstruseren Versionen des Utilitarismus eine einzige tatsachenbasierte Maßeinheit politischen Werts annimmt,
591 anhand deren sich alle politischen Maßnahmen und Institutionen testen lassen. Ohne eine solche eher unplausible Vorstellung fehlt uns in diesem Durcheinander jede Orientierung. Wie können wir ohne uns anleitende im Hintergrund stehende Ideale überhaupt zu einer Antwort auf die Frage anheben, welche Regierung oder welche Ressourcenverteilung besser ist?
Die Sache sieht besser aus, wenn wir akzeptieren, daß es sich bei den vertrauten Begriffen der politischen Tugend um interpretative Begriffe handelt. Das erklärt, warum sie gerade in der Politik jener Staaten eine besonders wichtige Rolle spielen, deren politische Kultur durch die Aufklärung auf dramatische Weise reformiert worden ist, und warum die Revolutionen dieser Zeit unter dem Banner der Freiheit, Gleichheit und Demokratie stattfanden und doch nicht festlegen konnten, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Und schließlich hilft es uns auch zu sehen, wie wir bei der Ausarbeitung unserer eigenen
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