Gerechtigkeit fuer Igel
offensichtliches Beispiel. Selbst im letzten Jahrhundert ist die Zensur von Pornographie vor allem in Form eines ethischen Paternalismus verteidigt worden. Basil Blackwell, der große Buchhändler aus Oxford, erklärte in einer Zeugenaussage, man solle Letzte Ausfahrt Brooklyn von Hubert Selby zensieren, weil es die Leser entwürdige, und als Beispiel für einen
627 Menschen, der durch das Lesen jenes Buches moralisch verdorben worden sei, führte er sich selbst an.
5 In den letzten Jahrzehnten hat der ethische Paternalismus aber seinen guten Ruf verloren, und heute ist er in der Politik nicht länger populär.
Statt dessen argumentiert man für zuvor auf diese Weise gerechtfertigte Einschränkungen derzeit gern mit Fairneßerwägungen. Es wird behauptet, daß die politische Mehrheit einen Anspruch auf die von ihr vertretene ethische Kultur oder, anders ausgedrückt, darauf habe, mit ihren Kindern in einer Kultur zu leben, in der die von ihnen bevorzugte Lebensweise zugelassen und unterstützt wird.
6 Es ist sehr viel einfacher, einer von den Eltern übernommenen Religion mit jenem fast blinden Glauben und Eifer anzuhängen, nach dem manche Menschen streben, und diese intensive Gläubigkeit an seine Kinder weiterzugeben, wenn die entsprechende Religion sozusagen offiziell anerkannt und ausgeübt wird; wenn konkurrierende Glaubensrichtungen und der Atheismus gleichberechtigt zu Wort kommen, fällt das um einiges schwerer. Mit einer konservativen Haltung in Fragen der Sexualität fühlt man sich leichter wohl, wenn keine schwer ignorierbaren sexualisierten Abbildungen die Titelseiten von Magazinen und die Werbung dominieren. Warum sollte die Mehrheit also nicht ihre bevorzugten religiösen oder sexuellen Anschauungen allen anderen vorschreiben dürfen? Schließlich hat sie durchaus das Recht, Dinge, die von einem unpersönlichen Standpunkt für wertvoll gehalten werden, bis zu einem gewissen Grad zu schützen, was zum Beispiel in der Subvention von Museen mit Steuergeldern und dem Schutz der Wälder vor Rodung zum Ausdruck kommt. Eine politische Mehrheit kann mir verbieten, auf meinem eigenen Grund und Boden einen Wolkenkratzer zu bauen oder Werbeplakate und rosa Plastikflamingos in meinen Vorgarten zu stellen. Warum sollte diese Mehrheit dann nicht ihre bevorzugten religiösen und sexuellen Sitten auf dieselbe Weise schützen dürfen?
628 Um diese Frage zu beantworten, müssen wir auf genau die Art von Argumenten zurückgreifen, die ich in diesem Buch erörtere – auf die hier herausgearbeitete Struktur von Unterscheidungen und Verknüpfungen von Verantwortung und Authentizität sowie von wechselseitigem Einfluß und Unterordnung. Das zweite Prinzip der Würde besagt, daß die Ethik eine Sonderrolle innehat: Sie grenzt ein, welche Entscheidungen kollektiv getroffen werden dürfen. Obwohl wir unsere ethischen Überzeugungen nicht vor dem Einfluß unserer ethischen Umgebung abschotten können, da wir ständig den Vorstellungen anderer Menschen darüber, wie man leben sollte, ausgesetzt sind, die um uns herum kritisiert, bejubelt oder einfach beispielhaft vorgeführt werden,
7 müssen wir darauf bestehen, daß jene Umgebung im Einklang mit der ethischen Unabhängigkeit zustande kommt, daß sie also organisch aus den Entscheidungen von Millionen frei wählenden Menschen entsteht, und nicht von politischen Mehrheiten etabliert wird, die ihre Entscheidungen allen anderen aufzwingen.
Im 13. Kapitel habe ich das Bild von Menschen vorgeschlagen, die in ihrer jeweils eigenen Bahn schwimmen und die zwar in die Bahn eines anderen wechseln dürfen, um ihm zu helfen, nicht aber, um ihm zu schaden. Die Moral im weiten Sinne definiert die Bahnen, die jene Schwimmer voneinander separieren. Sie legt fest, wann man hinüberwechseln muß, um anderen zu helfen, und wann ein solcher Wechsel verboten ist. In der Ethik geht es darum, welche Weise des Schwimmens eine gelungene Lebensführung darstellt. Dieses Bild kann uns auch hier weiterhelfen, weil es verdeutlicht, inwiefern die Moral in der Politik als der Ethik vorgängig behandelt werden muß, nämlich bei der Bestimmung der Möglichkeiten und Ressourcen, auf die Menschen ein Anrecht haben, und somit auch bei der Bestimmung ihrer Freiheitsrechte. Die von mir entwickelte interpretative Auffassung von Freiheit macht zugleich deutlich, warum aus dieser philosophischen Überlegung nicht folgt, daß die Moral Vorrang vor der Ethik hat oder um
629 gekehrt. Diese beiden Bereiche
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