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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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daß es wahr ist, für angemessen zu halten. Mit anderen Worten, für die Wahrheit unserer Überzeugung spricht genau das, was auch dafür spricht, daß die sie stützenden Argumente richtig sind. Eventuell haben Sie zunächst den Eindruck, diese Aussage sei wenig hilfreich, weil keine unabhängige Verifikationsmöglichkeit angeboten wird. Vielleicht erinnert Sie das an Ludwig Wittgensteins Geschichte über den Zeitungsleser, der an der Wahrheit dessen zweifelt, was er liest, und sich daher ein weiteres Exemplar derselben Zeitung zur Überprüfung besorgt. Anders als dieser Zeitungsleser können wir bei der Beantwortung moralischer Fragen aber verantwortungsbewußt vorgehen. Wir können uns fragen, ob wir auf die richtige Weise über sie nachgedacht haben. Was ist in diesem Zusammenhang unter der richtigen Weise zu verstehen? Darauf werde ich im sechsten Kapitel eingehen, in dem ich zudem nochmals betonen werde, daß
72 jede Theorie der moralischen Verantwortung selbst auch eine Moraltheorie ist: Sie ist ebenso Teil dieser umfassenden Moraltheorie wie die Urteile, deren Überprüfung sie ermöglichen soll. Ist diese Erläuterung der Logik der Gründe zirkulär? Ja, aber nicht zirkulärer als unsere verläßliche Praxis, im Rahmen der Wissenschaft Theorien der wissenschaftlichen Methode zu entwickeln, die wir dann als Bewertungsmaßstab für Wissenschaftlichkeit verwenden.
    Viele Leser werden meinen Versuch, jene beiden altehrwürdigen Fragen zu beantworten, als enttäuschend empfinden. Meines Erachtens hat diese Reaktion zwei Ursachen, von denen die erste einen Denkfehler darstellt und die zweite eher ermutigend für mich ist. Beginnen wir mit dem Fehler: Manche Menschen sind von meinen Vorschlägen enttäuscht, weil sie den Eindruck haben, daß jene Fragen eine andere Art von Antwort verlangen; genauer gesagt eine nichtmoralische Erläuterung von moralischer Wahrheit und moralischer Verantwortung, die aus der Moral heraustritt. Diese Erwartung zeugt aber von einer gewissen Unklarheit im Denken: Sie zeigt an, daß die betreffende Person die Unabhängigkeit der Moral und anderer Wertedimensionen nicht wirklich begriffen hat. Jede theoretische Antwort auf die Frage, was moralische Überzeugungen wahr macht oder welche Gründe gute Gründe dafür sind, sie zu akzeptieren, muß selbst eine moralische Theorie sein und somit eine moralische Prämisse oder Annahme beinhalten. In der Philosophie wird seit langem immer wieder eine Theorie der Moral verlangt, die keine Moraltheorie ist. Eine echte Ontologie oder Epistemologie der Moral kann aber nur innerhalb der Sphäre der Moral selbst ausgearbeitet werden. Sie sagen, das genüge nicht? Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, Sie zu überzeugen, daß Sie in Wirklichkeit nicht wissen, was Sie überhaupt wollen, und daß Sie am Ende die vorgreifenden Antworten in diesem Kapitel nicht als enttäuschend, sondern als erhellend empfinden.
    Eine zweite, für mich ermutigendere Erklärung Ihrer Unzufriedenheit wäre, daß meine Ausführungen hier zu abstrakt
73 und komprimiert sind: Sie verweisen nur auf die weiterführende moralische Theorie, die wir brauchen, ohne sie tatsächlich anzubieten. Bedenken Sie hier aber, daß die Aussage, eine wissenschaftliche These sei wahr, wenn sie der Realität entspricht, im Grunde gleichermaßen zirkulär und undurchsichtig ist. Sie scheint uns einfach weniger problematisch, weil all die enormen und eindrucksvollen Errungenschaften der Wissenschaft unserer Vorstellung einer korrespondierenden Realität Substanz verleihen. Wir glauben zu wissen, wie festgestellt werden kann, ob etwa eine Aussage im Bereich der Chemie diese Bedingung erfüllt. Wir benötigen also eine gleichermaßen durchstrukturierte und komplexe Ontologie und Epistemologie der Moral. Zu sagen, daß eine moralische Aussage aufgrund ihrer angemessenen Begründung wahr ist, reicht nicht aus; eine weitergehende Theorie der Struktur angemessener Begründungen ist ebenfalls erforderlich. Es genügt nicht, auf die Idee moralischer Verantwortung zu verweisen, ohne genauer auszubuchstabieren, worum es sich dabei eigentlich handelt.
    All diese Fragen werde ich im zweiten Teil angehen. Dort versuche ich zu zeigen, daß wir moralische Begründungen als eine Form der interpretativen Argumentation verstehen sollten und daß wir unserer moralischen Verantwortung nur gerecht werden können, indem wir uns um eine möglichst umfassende Konzeption jenes größeren Wertesystems bemühen, zu dem

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