Gerechtigkeit fuer Igel
immer noch eine ungleich größere unmittelbare Wirkung auf Recht und Politik als gewöhnliche Bürger haben und nach ihrer Wahl eigene Vorhaben ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung vorantreiben können, insbesondere dann, wenn sie sich nicht um ihre Wiederwahl sorgen müssen. Diese Politiker könnten Idealisten sein, die Edmund Burkes Erklärung der Unabhängigkeit von seinen Wählern folgen,
11 oder Betrüger wie Spiro T. Agnew, der Vizepräsident Richard Nixons, die in die eigene Tasche wirtschaften. Wir können die Wahrscheinlichkeit, daß es dazu kommt, mit relativ regelmäßigen Wahlen und einer wachsamen freie Presse senken; mehr ist wohl nicht zu tun. Wenn Sie jene zweite Interpretation der politischen Gleichheit für richtig halten,
659 werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß die majoritäre Demokratie diesem Ideal wie angegossen paßt.
Diese zweite Interpretation kann jedoch nicht überzeugen. Selbst wenn wir anerkennen, daß gleicher Einfluß weder erreichbar noch wünschenswert ist, scheint es ziemlich irrational, die gleiche Wirkung als solche für wichtig zu halten. Für sich genommen wäre es für die individuellen Bürger einer politischen Gemeinschaft jedweder Größe nicht besonders nützlich, gleichermaßen auf eventuelle Entscheidungen einwirken zu können. Nehmen wir an, Sie leben in einer Gemeinschaft von der Größe Frankreichs. Die Repräsentanten werden in regelmäßigen Wahlen gewählt, an denen alle Erwachsenen teilzunehmen berechtigt sind; die Verfassung ist so eingerichtet, daß jede Stimme in den Wahlen gleich viel zählt, daß ein Maximum an freier Meinungsäußerung garantiert ist und die Medienlandschaft durch Wachsamkeit, Konkurrenz und politische Diversität gekennzeichnet ist. Sie hätten unter diesen Umständen so wenig politische Macht, daß man sie sinnvollerweise auf Null abrunden müßte. Ihre Entscheidung, so oder so abzustimmen, wird die Wahrscheinlichkeit, daß Ihre Präferenz sich durchsetzt, nicht in einem statistisch signifikanten Maß erhöhen. Die Mitglieder einer großen Gemeinschaft, deren politische Wirkung tatsächlich oder annäherungsweise gleich ist, haben individuell betrachtet nicht mehr Gewalt über ihre Regierung, als sie hätten, wenn Priester die politischen Entscheidungen aus den Eingeweiden toter Tiere herauslesen würden. Wenn also die politische Wirkung eines gewöhnlichen Bürgers mit einer gleichen Stimme unendlich klein ist, warum sollte es uns dann wichtig sein, ob der unendlich kleine Einfluß der anderen gleichermaßen unendlich klein ist wie der unsere?
Vielleicht haben Sie nun den Eindruck, daß ich hier mit meiner Argumentation zu weit gegangen bin. Würde all das uns nicht zu der Schlußfolgerung zwingen, daß politische Gleichheit ohne jede Bedeutung ist? Was hindert uns dann daran, uns für eine aufgeklärte Autokratie zu entscheiden? Die Demo
660 kratie soll zwar die von mir genannten instrumentellen Vorteile mit sich bringen, aber vielleicht könnte man diese ja genausogut auch über eine totalitäre Regierung erreichen. Viele Politikwissenschaftler sind tatsächlich der Auffassung, daß diese Vorteile in unterentwickelten Ökonomien leichter durch totalitäre Regierungen zu verwirklichen sind. Ein Diktator könnte erforschen, was die Mehrheit der Menschen will, ihnen das dann geben und all die Ablenkungen und Kosten, die mit Wahlen einhergehen, vermeiden. Er könnte zum Beispiel ein faires System der Besteuerung und der Umverteilung etablieren, das ungefähr dem von mir im 16. Kapitel beschriebenen hypothetischen Versicherungssystem entspricht. Ziehen wir die Demokratie nur deshalb vor, weil wir befürchten, daß tatsächliche Diktatoren ihre Macht mißbrauchen würden? Ist der von Judith Shklar so genannte »Liberalismus der Angst« die einzige Begründung der Demokratie, die uns zur Verfügung steht?
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Die Antwort ist nein. Um eine alternative Begründung zu finden, müssen wir aber zu jener dritten Interpretation der politischen Gleichheit zurückkehren, der zufolge es um den politischen Status und nicht um politische Macht geht. In der Demokratie kommt die gleiche Berücksichtigung und Achtung, die die Gesamtheit der politischen Gemeinschaft als Hüterin der Zwangsgewalt ihren einzelnen Mitgliedern entgegenbringen muß, am besten zur Geltung. Sie ist – abgesehen von der Herrschaft durch Los – die einzige Regierungsform, die der gleichen Berücksichtigung und Achtung in ihrer grundlegenden Verfassung Ausdruck
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