Gerechtigkeit fuer Igel
eben beschriebenen Prozesses kommen, in der endgültigen Entscheidung von der Gemeinschaft in vollem und gleichem Maße zum Tragen kommen. Einfluß und Wirkung sind voneinander zu unterscheiden. Der Einfluß einer Person schließt ihre Fähigkeit ein, andere zu überzeugen und auf die eigene Seite zu ziehen; ihre Wirkung ist auf das begrenzt, was sie durch ihre eigene Meinung ohne Bezug auf das, was andere glauben, erreichen kann. Drittens könnten wir auch der Meinung sein, daß unter politischer Gleichheit etwas ganz anderes zu verstehen ist, und zwar, daß die politische Wirkung eines erwachsenen Bürgers nicht aus Gründen, die mit seiner Würde unvereinbar sind, kleiner sein darf als der Einfluß seiner Mitbürger – also aus Gründen, die zum Ausdruck bringen, daß sein Leben in geringerem Maße Berücksichtigung erfährt als das der anderen, oder daß seine Meinungen weniger geachtet werden. Im Rahmen der ersten beiden Vorschläge wäre Gleichheit ein mathematisches Ideal, da sie zumindest abstrakt eine Metrik politischer Macht und politischer Ansprü
657 che voraussetzen und dann fordern, daß die Macht aller Bürger entsprechend dieser Metrik gleich zu sein hat. Dem dritten Verständnis zufolge ist politische Gleichheit eine Frage der Einstellung, nicht der Mathematik. Sie verlangt von der Gemeinschaft nicht unbedingt, die politische Macht gleich zu verteilen, sondern nur, sie auf eine Weise zu verteilen, die die Bürger als Gleiche behandelt.
Wenn wir nun jene beiden ersten Vorschläge miteinander vergleichen – entweder geht es um gleichen Einfluß oder um gleiche Wirkung –, fällt es schwer, die zweite zur besseren Interpretation zu erklären. Daß meine politische Macht gleich groß ist wie die eines Milliardärs, eines Popstars, eines charismatischen Predigers oder einer von vielen verehrten politischen Heldin, scheint angesichts der Tatsache, daß sich viele Millionen Menschen nach diesen Menschen richten und ich selbst unbekannt und nicht besonders mitreißend bin, einfach unsinnig zu sein. Schon aus diesem Grund sollten wir die erste Interpretation der zweiten vorziehen. Aber die erste Interpretation ist nicht nur unrealistisch, sondern auch wenig attraktiv, weil sie sich nur in einer totalitären Gesellschaft verwirklichen ließe. Es ist nicht zu ändern, daß manche Menschen sehr viel einflußreicher sind als andere, weil sie ihre Mitbürger davon überzeugen können, auf eine bestimmte Weise zu wählen. Martin Luther King hatte weit mehr Einfluß auf die Meinung der Menschen als fast jeder andere gewöhnliche Bürger, und heute verfügen Oprah Winfrey, Tom Cruise, eine Reihe berühmter Sportler, der Vorstandsvorsitzende von Microsoft, die Herausgeber der New York Times, die Redakteure von Fox News und Hunderte andere US -amerikanische Bürger über diese besondere Art der Macht. In manchen Fällen bedauern wir, daß Menschen aufgrund ihres Reichtums besonders einflußreich sind, weil wir denken, daß dies in der Politik ohne Bedeutung sein sollte. Den besonderen Einfluß anderer Menschen – etwa den Martin Luther Kings – bedauern wir hingegen nicht, noch halten wir ihn für einen Defekt unserer De
658 mokratie. Im Gegenteil: Wir sind stolz darauf, daß er so viel Macht hatte.
Wenn wir die mathematische Interpretation der politischen Gleichheit für richtig halten, müssen wir uns also doch für die zweite Lesart entscheiden, der zufolge der politische Einfluß zu vernachlässigen und nur gleiche Wirkung erforderlich ist – es geht also darum, daß jede Person dieselbe Macht haben sollte, die Gesetze ihrer Gemeinschaft auf der Basis persönlicher Präferenzen mitzugestalten. Diese Art der Gleichheit mag im Rahmen der Versammlung einer kleinen Gemeinde gut zu verwirklichen sein, indem einfach allen an der Versammlung teilnehmenden Personen eine Stimme gegeben wird. In einer viel größeren und komplexeren politischen Gemeinschaft mit einer repräsentativen Regierung, Wahlbezirken und Gewaltenteilung bedarf es jedoch einer viel elaborierteren Strategie. Dennoch kann man selbst in einem europäischen Staat, in dem nur relativ wenige Menschen an der Regierung beteiligt sind und diese daher eine enorme Macht haben, den Bürgern jeweils eine Stimme in allen Wahlen geben und die Wahlbezirke so zuschneiden, daß alle Stimmen gleich viel zählen. Das kommt der gleichen Wirkung für alle recht nahe.
Es hätte aber zur Folge, daß Präsidenten, Premierminister, Parlamentarier und Richter
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