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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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daß der unbeliebteste Passagier ertrinkt, kann wohl kaum als fair gelten. Es wäre viel fairer, das Los entscheiden zu lassen.
    Waldron hat hierauf entgegnet, daß für den Fall, in dem die Passagiere sich darüber uneins sind, ob die Abstimmung oder das Los fairer ist, eine Abstimmung die einzig faire Methode darstellt, diese Frage zu entscheiden.
 8 Dieser rekursive Vorschlag scheint aber auch nicht überzeugender, weil die Behauptung, daß Zahlen in der Frage, ob Zahlen ausschlaggebend sein sollten, ausschlaggebend sind, ziemlich unsinnig ist. Wenn die Mehrheit der Passagiere im Rettungsboot zunächst darüber abstimmt, ob abgestimmt werden soll, und dann abstimmt, den Kabinenjungen von Bord zu werfen, wäre das kein bißchen fairer, als ihn direkt über Bord zu werfen. Wenn die Fairneß eines Verfahrens umstritten ist, ist sie das absolut: Es gibt einfach kein Standardverfahren, um über Entscheidungsverfahren zu entscheiden. (Auch auf diese These hat Waldron kürzlich eine Erwiderung verfaßt.
 9 )
    Die offensichtlichen Gründe dafür, daß ein Mehrheitsvotum im Fall des Rettungsbootes unfair wäre, treffen zumindest auch auf einige politische Entscheidungen zu. Ebensowenig wie die Voreingenommenheiten und persönlichen Abneigungen der Mehrheit einen Einfluß auf die Entscheidung haben sollten, welcher Passagier von Bord gehen muß, sollten sie von Relevanz sein, wenn eine politische Gemeinschaft über
655 die Rechte einer identifizierbaren und unbeliebten Minderheit entscheidet.
10 Im Fall des Rettungsbootes gibt es eine naheliegende Lösung: Man überläßt es dem Zufall. Als Entscheidungsverfahren in der Politik ist das jedoch nicht geeignet. Wenn Entscheidungen gewichtige Konsequenzen für das Leben der Menschen haben, dann wäre es keine besonders gute Idee, sie dem Zufall oder einer Art von Orakel zu überlassen. Es mag sein, daß das zumindest eine gewisse Zeit lang für die Athener gut funktioniert hat, aber für uns ist es kein gangbarer Weg. In der Frage eines Kriegseintritts mag die Meinung einer Mehrheit nicht besser sein als die Meinung einer Minderheit, aber sie ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit besser, als einfach die Würfel sprechen zu lassen.
    Auch gegen autokratische oder investitionsbasierte Verfahren sprechen schwer abzuweisende Gründe, die damit zusammenhängen, daß mit Bürgern nicht wie mit den Musikern eines Orchesters oder Aktionären umgegangen werden darf. Manche dieser Gründe sind praktischer Natur: Wie ich bereits bemerkt habe, führt Demokratie zumindest in vielen Fällen zu Stabilität und schützt gegen Korruption. Weitere Gründe haben damit zu tun, welche Ergebnisse man von demokratischen Verfahren erwartet: Es ist möglich, daß sie mit größerer Wahrscheinlichkeit als autokratische Verfahren das (auf plausible Weise verstandene) allgemeine Wohlergehen befördern, selbst wenn das nicht zwangsläufig so ist. Wie wir gesehen haben, verlangt zudem natürlich die Würde der Bürger, daß sie eine wichtige Rolle in ihrem eigenen Herrschaftssystem spielen können. Von all diesen Argumenten für die Demokratie und gegen den Zufall oder die Aristokratie spricht jedoch keines für die majoritäre und gegen die partnerschaftliche Auffassung von Demokratie. Wir können im Gegenteil sogar vermuten, daß letztere zu mehr Stabilität führt und besser geeignet ist, das allgemeine Wohlergehen zu identifizieren und zu gewährleisten, weil sie Minderheiten einen größeren durch die Verfassung garantierten Schutz zukommen läßt.
    656 Politische Gleichheit?
    Müssen wir zugestehen, daß im Rahmen einer majoritären Auffassung politische Gleichheit verwirklicht wird, während das für die partnerschaftliche Konzeption nicht gilt? Nun, das hängt davon ab, wie dieser interpretative Begriff am besten verstanden werden sollte. Das abstrakte Ideal der politischen Gleichheit läßt sich auf drei unterschiedliche Weisen genauer auslegen. Erstens können wir denken, politische Gleichheit bedeute, daß die politische Macht auf eine Weise verteilt ist, die allen erwachsenen Bürgern den gleichen Einfluß auf politische Entscheidungen ermöglicht. Alle haben dieselbe Chance, daß die von ihnen in den politischen Prozeß eingebrachten Meinungen am Ende in Gesetze oder politische Maßnahmen münden. Zweitens könnten wir politische Gleichheit so verstehen, daß alle erwachsenen Bürger in diesem Prozeß dieselbe Wirkung erzielen können; daß also die Ansichten, zu denen sie im Verlauf des

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