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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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unserer Welt auf Ihrem Schreibtisch befindet, liegt auf dem ansonsten identischen Tisch einer Person, die mit Ihnen vollkommen identisch ist, ein blauer Stift. Wir können uns vorstellen, daß ansonsten kein Unterschied zwischen den Welten besteht, der dafür sorgt, daß diese ansonsten gleichen Stifte nicht dieselbe Farbe haben, weil solche physikalischen Tatsachen für sich stehen können, und genau das ist mit der Aussage, sie könnten schlicht wahr sein, gemeint.
    Bei moralischen oder Werturteilen ist das hingegen nicht der Fall. Sie können nicht schlicht wahr sein, denn wenn die beiden Welten sich im Hinblick auf Werte unterscheiden, dann müssen sie das auch auf eine nichtevaluative Weise tun. Es kann keine Welt geben, die sich nur dadurch unterscheidet, daß die Hochzeit des Figaro eine schlechte Oper ist oder daß es moralisch erlaubt ist, Babys aus Spaß zu foltern. Das wäre aber möglich, wenn Werturteile eine Frage der Beobachtung von Moronen wären. Dann wäre es vollkommen plausibel zu denken, daß moralische Urteile schlicht wahr sein können oder, anders gesagt, daß sie in einer Welt wahr, in einer anderen, die anson
197 sten vollkommen gleich ist, aber falsch sein können, falls die Moronen in jener zweiten Welt anders angeordnet wären. Es gibt aber keine moralischen Teilchen oder sonstige Entitäten, aufgrund deren ein Werturteil wahr ist. Werte sind nicht wie Steine, über die wir im Dunkeln stolpern können. Sie sind nicht einfach nur da.
    Wenn ein Werturteil wahr ist, muß es einen Grund geben, warum es wahr ist. Es kann nicht einfach wahr sein. Das ist in den Naturwissenschaften nicht unbedingt der Fall. Wissenschaftler versuchen, in der Physik, Biologie oder Psychologie möglichst grundlegende und allgemeine Gesetze zu finden. Wir müssen aber die Möglichkeit akzeptieren, daß vielleicht irgendwann in einer heute kaum vorstellbaren Zukunft keine weiteren Erklärungen mehr möglich sein werden – oder zumindest, daß dieser Gedanke nicht absurd ist –, daß es, mit anderen Worten, zu irgendeinem Zeitpunkt richtig sein wird zu sagen: »So ist es eben.« Unter Umständen sagen wir das zu früh oder auf der Grundlage eines Irrtums. Vielleicht finden die Wissenschaftler eines Tages die umfassenden Prinzipien, nach denen sie forschen: vielleicht ein Prinzip der Physik, das alles Physikalische erklärt und auch die Biologie und Psychologie umfaßt. Oder vielleicht stellt sich dieses Streben als ein Irrtum heraus. Vielleicht ist das Universum letztlich unordentlich; vielleicht hat Gott, wie Albert Einstein es ausgedrückt hat, hier eine Gelegenheit für Eleganz nicht genutzt. Vielleicht mußte die Welt einfach eine bestimmte Beschaffenheit haben, vielleicht aber auch nicht; vielleicht hätte sie anders sein können. All das muß sich noch herausstellen – oder auch nicht, abhängig vom zukünftigen Überleben und Fortschritt intelligenter Lebewesen.
    Es scheint auf jeden Fall nicht unplausibel zu denken, daß die Welt einfach auf eine bestimmte Weise beschaffen ist und Erklärungen daher ein theoretisches Ende haben. Im Rahmen seiner Vorlesungen über Quantenelektrodynamik für ein Laienpublikum vertritt der Physiker Richard Feynman folgende
198 These: »Ein weiterer Grund, warum Sie das, was ich Ihnen vortrage, nicht zu verstehen glauben könnten, mag sein, daß Sie nicht begreifen, warum die Natur so verfährt, während ich Ihnen beschreibe, wie sie verfährt. Das Warum versteht nämlich niemand. Ich kann nicht erklären, warum sich die Natur so und nicht anders verhält […] Und so hoffe ich, daß Sie die Natur akzeptieren können, wie sie ist – absurd.«
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    Können Sie sich vorstellen, daß ein Moralphilosoph so etwas sagt? »Ich werde Ihnen sagen, wie die Moral verfährt – eine progressive Einkommensbesteuerung ist verwerflich –, aber niemand kann verstehen, warum sie verwerflich ist. Sie müssen die Moral als das verstehen, was sie ist – absurd.« Es ist immer angemessen zu fragen, warum die Moral das fordert, was sie fordert, und zu sagen: »Das ist einfach so« ist im Bereich der Moral nie eine gute Antwort. Natürlich können wir oft nicht viel mehr als das erwidern. Wir sagen dann zum Beispiel: »Folter ist einfach falsch, basta.« Aber das ist einer gewissen Ungeduld und einem Mangel an Einfallsreichtum geschuldet. Mit einer solchen Aussage stellen wir nicht unser Verantwortungsbewußtsein unter Beweis, sondern das genaue Gegenteil.
    Es stimmt, daß manche

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