Gerechtigkeit fuer Igel
die gegenteilige, daß jeder Philosoph notwendig jeden überzeugen kann, der ihm zuhört. Die Wahrheit liegt zweifellos irgendwo dazwischen, und wir müßten mit vollkommen überzogenem Aufwand eine riesige empirische Studie durchführen, um auch nur ungefähr sagen zu können, wo sie angesiedelt ist. Wenn wir der Philosophie aber die von mir eben vorgeschlagene Rolle zuschreiben, dann ist sie von dieser Kritik sowieso nicht betroffen, weil keine radikalen
190 Konversionen erwartet werden. Selbst wenn kein Philosoph je dramatische Veränderungen im Denken oder Verhalten eines anderen Menschen bewirkt hätte, was schwer vorstellbar ist, hätte sie so verstanden dennoch eine wichtige Funktion, da Gemeinschaften und Kulturen ebenfalls einer bestimmten Verantwortung gerecht werden müssen und ihre kollektiven Institutionen eine entsprechende Disposition aufweisen sollten. Unabhängig davon, was die Athener selbst von ihm hielten, sehen wir Sokrates heute als Zierde Athens.
Ambitionen und Errungenschaften in der Philosophie sollten eher im Zusammenhang mit der Verantwortung als mit der Wahrheit beurteilt werden. Das ist wahrscheinlich auch die beste Perspektive, die man auf Kants Moralphilosophie haben kann. Wie John Rawls in seinen Vorlesungen zu Kant betont hat, glaubte jener nicht, im Hinblick auf moralische Pflichten neue Wahrheiten entdeckt zu haben.
3 Indem er den kategorischen Imperativ immer wieder neu zum Ausdruck brachte, arbeitete er an einem ähnlichen Projekt, wie ich es eben beschrieben habe. Ob es möglich ist, Maximen des eigenen Verhaltens zu universalisieren, ist kein Wahrheitstest, denn verschiedene Handelnde werden dieser Anforderung auf unterschiedliche Weise entsprechen. Als Test für Verantwortungsbewußtsein oder zumindest als wichtige Komponente eines solchen Tests ist diese Überlegung hingegen sehr gut geeignet, weil ein solches Vorgehen zu einer Kohärenz führt, die nötig ist, um der eigenen moralischen Verantwortung gerecht zu werden. Kant zufolge müssen wir die Allgemeingültigkeit einer Maxime wollen und sie uns auch vorstellen können. Die Politik wird von den meisten Menschen als wichtigster Ort moralischer Auseinandersetzungen und Herausforderungen gesehen, weshalb die Politische Philosophie einer Gemeinschaft gewissermaßen als wichtiger Teil ihres kollektiven Gewissens und ihrer moralischen Verantwortung betrachtet werden kann.
Es ist mir wichtig, in diesem Zusammenhang ein bestimmtes Mißverständnis zu vermeiden, vor dem ich freundlicher
191 weise gewarnt worden bin.
4 Ich behaupte nicht, daß Moralphilosophen ein besseres Gefühl für Moral haben als andere Menschen; das ist offensichtlich nicht der Fall. Das Vorgehen der Philosophie ist sehr viel expliziter, aber das bedeutet nicht, daß die konkreten Urteile von Philosophen vernünftiger sind. Außerdem beinhaltet unser alltägliches Urteilen auch viele philosophische Elemente, weil unsere Ansichten darüber, was gut oder schlecht, falsch oder richtig ist, einen allgemeinen Eindruck davon widerspiegeln, wie sich viele konkretere moralische Begriffe zueinander verhalten. Im achten Kapitel versuche ich zu zeigen, warum weder Einigkeit noch Uneinigkeit im Bereich der Moral ohne diese Unterstellung wirklich erklärt werden können.
Der Wert der Verantwortung
Wir können unserer Verantwortung in diesem Sinne daher nie vollkommen gerecht werden. Aber warum nehmen wir sie überhaupt so wichtig? Natürlich spielt sie für uns als Individuen eine große Rolle, weil jeder, der bemüht ist, so zu handeln, wie er soll, danach streben muß, in seinem Handeln stets bestimmten Prinzipien zu genügen. Aber warum ist es uns wichtig, daß andere Menschen verantwortungsvoll handeln? Natürlich spielt es eine Rolle für uns, was sie faktisch tun, weil wir wollen, daß sie sich richtig verhalten. Wieso kümmert uns aber darüber hinaus, ob sie aus Überzeugung oder aus anderen Beweggründen handeln? Stellen Sie sich vor, daß die Staatsoberhäupter zweier Demokratien ihre jeweiligen Länder in einen Krieg im Nahen Osten verstricken. Beide behaupten, dadurch eine geknechtete Bevölkerung von einem grausamen Diktator zu befreien. Der eine meint das ernst: Er denkt, daß mächtige Staaten verpflichtet sind, unterdrückten Völkern zur Freiheit zu verhelfen, und er hätte jenen Krieg nicht begonnen, wenn er die Situation anders eingeschätzt hätte. Der zweite ist nicht
192 ehrlich und hat sich in Wirklichkeit zu einem militärischen Vorgehen
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