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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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dadurch nicht sicherer. Sie halten sie daher für nutzlos. Oder sie sind besorgt, dass unsere Soldaten im Falle einer Gefangennahme brutaler behandelt würden, wenn unser Land Folter anwendete. Der unerwünschte Nebeneffekt könnte den allgemeinen Nutzen, der sich aus unserer Anwendung der Folter ergäbe, insgesamt gesehen verringern.
    Diese praktischen Erwägungen mögen zutreffen oder auch nicht. Als Begründung, sich gegen Folter zu wenden, sind sie jedoch uneingeschränkt mit dem utilitaristischen Denken vereinbar. Sie erklären nicht, dass es an sich von Übel sei, einen Menschen zu foltern, sondern nur, dass die Anwendung von Folter schlimme Folgen haben könnte, die insgesamt gesehen mehr Schaden als Nutzen nach sich zögen.
    Manche Menschen verwerfen Folter grundsätzlich. Sie glauben, sie verstoße gegen die Menschenrechte und missachte die Würde des Menschen. Ihre Argumentation gegen die Folter hängt nicht von utilitaristischen Erwägungen ab. Sie meinen, Menschenrechte und menschliche Würde besäßen eine moralische Grundlage, die jenseits aller Nutzenerwägungen liege. Wenn sie recht haben, ist Benthams Philosophie falsch.
    Oberflächlich gesehen scheint das Szenario mit der tickenden Bombe Benthams Position in dieser Debatte zu stützen. Die Anzahl der Opfer scheint einen moralischen Unterschied auszumachen.
    Den möglichen Tod von drei Menschen in einem Rettungsboot hinzunehmen, um nicht kaltblütig einen unschuldigen Schiffsjungen töten zu müssen, ist eine Sache. Doch was ist, wenn Tausende Menschenleben auf dem Spiel stehen? Was, wenn Hunderttausende Menschenleben in Gefahr wären? Der Utilitarist würde vorbringen, von einem bestimmten Punkt an könnte selbst der glühendste Verfechter der Menschenrechte nur schwer darauf bestehen, dass es moralisch besser sei, eine sehr große Zahl Unschuldiger sterben zu lassen, als einen einzelnen Terrorverdächtigen zu foltern.
    Als Prüfstein für die utilitaristische Moralargumentation führt der Fall der tickenden Zeitbombe jedoch in die Irre. Mit ihm soll bewiesen werden, dass die Anzahl der betroffenen Menschen eine Rolle spielt, so dass wir, wenn ausreichend viele Menschenleben gefährdet sind, bereit sein sollten, unsere Skrupel in Bezug auf Würde und Rechte zu unterdrücken. Und wenn das wahr ist, geht es bei der Moral letztendlich doch um die Berechnung von Kosten und Nutzen.
    Aber das Folterszenario zeigt nicht, dass die Aussicht, viele Leben zu retten, es rechtfertigt, einem Unschuldigen schweres Leid zuzufügen. Wir müssen bedenken, dass die Person, die wegen der Rettung all dieser Leben gefoltert wird, des Terrorismus verdächtigt wird – oder sogar die Bombe selbst gelegt hat. Die moralische Kraft der Argumente, den Verdächtigen zu foltern, hängt stark von der Annahme ab, dass er in irgendeiner Weise für die Gefahr verantwortlich sei, die wir nun abzuwehren suchen. Falls er nicht für diese Bombe verantwortlich ist, nehmen wir an, er habe andere schreckliche Taten begangen, für die er es verdient habe, brutal behandelt zu werden. Die im Fall der tickenden Zeitbombe wirksame moralische Intuition speist sich nicht ausschließlich aus einer Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern auch aus der keineswegs utilitaristischen Vorstellung, dass Terroristen böse Menschen sind, die es verdienen, bestraft zu werden.
    Das wird dann deutlich, wenn wir das Szenario in der Weise verändern, dass nun ein Schuldloser gefoltert wird. Nehmen wir an, der Verdächtige sei allein dadurch zum Reden zu bringen, dass seine kleine Tochter (die von den schändlichen Aktivitäten ihres Vaters gar nichts weiß) gefoltert wird. Wäre das moralisch zulässig? Ich habe den Verdacht, dass selbst ein hartgesottener Utilitarist bei dieser Vorstellung zurückzucken würde. Dabei stellt diese Version des Folterszenarios einen realistischeren Test des utilitaristischen Prinzips dar. Sie sieht von der Intuition ab, dass der Terrorist ohnehin Strafe verdient habe (ungeachtet der wertvollen Information, die wir zu gewinnen hoffen), und zwingt uns, die utilitaristische Kalkulation an sich zu bewerten.
    Die Stadt des Glücks
    Die zweite Version des Folterfalls – die mit der unschuldigen Tochter – erinnert mich an eine Kurzgeschichte von Ursula K. Le Guin. Die Geschichte The Ones Who Walked Away from Omelas (deutsch: Die Omelas den Rücken kehren ) handelt von einer Stadt namens Omelas – einer Stadt des Glücks und der bürgerlichen Freuden, einem Ort ohne Könige oder Sklaven, ohne

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