Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Einwand der Jury das Preisschild und nicht das Prinzip betraf, könnte ein Utilitarist zustimmen. Wenige Menschen würden sich dazu entschließen, für 200 000 Dollar bei einem Autounfall zu sterben. Die meisten Menschen leben gern. Um die vollständigen Kosten eines Todesfalls zu messen, müsste man auch den Verlust des Opfers an künftigem Glück einbeziehen, nicht nur die ihm entgangenen Einnahmen und die Bestattungskosten. Aber wie sähe dann eine realistischere Schätzung für den monetären Wert eines Menschenlebens aus?
Preisabschlag für Senioren
Als die US -Umweltschutzbehörde ( EPA ) versuchte, diese Frage zu beantworten, löste auch sie moralische Entrüstung aus – wenn auch von anderer Art. 2003 stellte die EPA eine Kosten-Nutzen-Analyse für neue Normen gegen Luftverschmutzung vor. Die Behörde war deutlich großzügiger als Ford, arbeitete allerdings mit einer auf das Alter abgestimmten Bemessung: Für jedes durch sauberere Luft gerettete Leben setzte sie 3,7 Millionen Dollar an – mit Ausnahme der über 70-Jährigen, deren Leben nur mit 2,3 Millionen verbucht wurde. Hintergrund der unterschiedlichen Bewertungen war eine utilitaristische Feststellung: Erhält man das Leben einer älteren Person, bringt das weniger Nutzen als die Bewahrung des Lebens jüngerer Menschen. (Jüngere Menschen haben eine höhere Lebenserwartung und daher noch eine größere Menge an Lebensglück zu genießen.) Vertreter der älteren Generation sahen das anders. Sie stellten den »Preisabschlag für Senioren« in Frage und meinten, die Regierung solle dem Leben jüngerer Menschen keinen größeren Wert beimessen als dem Leben der Älteren. Die EPA , durch die Proteste aufgeschreckt, gab den Preisabschlag schnell auf und zog den Bericht zurück. 14
Kritiker des Utilitarismus verweisen auf solche Episoden, um damit zu belegen, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse in die Irre führe und es von moralischer Abstumpfung zeuge, dem Menschenleben einen monetären Wert zuzuschreiben. Verteidiger der Kosten-Nutzen-Analyse sind anderer Ansicht. Sie bringen vor, dass bei vielen gesellschaftlichen Entscheidungen implizit eine bestimmte Zahl von Menschenleben gegen andere Güter und Annehmlichkeiten aufgerechnet wird. Das Menschenleben hat, darauf bestehen sie, seinen Preis, ob wir das nun zugeben oder nicht.
Beispielsweise fordert die Nutzung des Automobils einen vorhersagbaren Zoll an Menschenleben – in den USA sind das mehr als 40 000 Tote jährlich. Doch das bringt uns als Gesellschaft nicht dazu, Autos aufzugeben. Tatsächlich veranlasst es uns noch nicht einmal, die Geschwindigkeitsbeschränkung strenger zu handhaben. Während einer Ölkrise im Jahr 1974 erließ der US -Kongress ein nationales Tempolimit von 55 Meilen pro Stunde. Obwohl damit in erster Linie Energie eingespart werden sollte, hatte diese Maßnahme auch weniger Verkehrstote zur Folge.
In den 80er Jahren hob der Kongress die Beschränkung wieder auf, und die meisten Staaten erlaubten daraufhin 65 Meilen pro Stunde. Autofahrer sparten dadurch Zeit, doch die Zahl der Verkehrstoten stieg an. Damals stellte keiner eine Kosten-Nutzen-Analyse an, um festzustellen, ob der Nutzen schnelleren Fahrens die Kosten der Menschenleben wert war. Doch einige Jahre später rechneten zwei Ökonomen den Fall durch. Den Nutzen der erlaubten höheren Geschwindigkeit definierten sie über das schnellere Pendeln zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Sie kalkulierten den ökonomischen Effekt der eingesparten Zeit (bei einem durchschnittlichen Stundenlohn von 20 Dollar) und dividierten die Einsparungen durch die Zahl der zusätzlichen Todesfälle. Wie sie ausrechneten, bewerteten die Amerikaner ein Menschenleben für die Annehmlichkeit, schneller fahren zu dürfen, effektiv mit 1,54 Millionen Dollar pro Leben. Das war der ökonomische Gewinn pro Todesfall, der sich daraus ergab, dass man zehn Meilen pro Stunde schneller fahren durfte. 15
Befürworter der Kosten-Nutzen-Analyse verweisen darauf, dass wir, wenn wir mit 65 statt mit 55 Meilen pro Stunde unterwegs sind, ein Menschenleben unausgesprochen mit 1,54 Millionen Dollar bewerten – das ist erheblich weniger als die Zahl von 6 Millionen Dollar pro Leben, die US -Behörden üblicherweise ansetzen, wenn sie Normen gegen Verschmutzung und Regeln zu Gesundheit und Sicherheit festlegen. Warum sollte man das also nicht explizit äußern? Wenn es schon nicht zu vermeiden ist, dass man gewisse Sicherheitsniveaus gegen bestimmte Vorteile und
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