Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Annehmlichkeiten aufrechnet, sagen sie, dann sollten wir das wenigstens mit offenen Augen tun und Kosten wie Nutzen so systematisch wie möglich vergleichen – auch wenn es darauf hinausläuft, dem Menschenleben ein Preisschild anzuheften.
Dass wir davor zurückschrecken, Menschenleben einen Geldwert beizumessen, sehen Utilitaristen als Impuls, den wir überwinden sollten – als ein Tabu, das klares Denken und rationale gesellschaftliche Entscheidungen behindert. Für Kritiker des Utilitarismus hingegen verweist unser Zögern auf die Tatsache, dass es nicht möglich sei, alle Werte und Güter mit einem einzigen Maßstab zu messen.
Schmerz gegen Bezahlung
Es ist nicht klar, wie dieser Streit beigelegt werden kann. Doch einige empirisch orientierte Sozialwissenschaftler haben es versucht. In den 30er Jahren machte sich der Sozialpsychologe Edward Thorndike daran, ein fundamentales Prinzip des Utilitarismus empirisch zu belegen. Er wollte zeigen, dass es möglich sei, unsere scheinbar unterschiedlichen Begierden und Abneigungen in eine allgemeingültige Währung von Lust und Unlust zu übertragen. Im Rahmen einer Untersuchung fragte er junge Sozialhilfeempfänger, wie viel man ihnen bezahlen müsste, damit sie bereit wären, verschiedene Qualen zu erleiden. Die Fragen lauteten etwa: »Wie viel müsste man Ihnen bezahlen, damit Sie sich einen oberen Schneidezahn ziehen lassen?«, »… damit man Ihnen den kleinen Zeh eines Fußes amputieren darf?«, »… damit Sie einen lebenden 20 Zentimeter langen Regenwurm essen?«, »… damit Sie eine Katze mit bloßen Händen erwürgen?« oder »… damit Sie den Rest Ihres Lebens in Kansas verbringen, zehn Meilen von jeder größeren Ortschaft entfernt?« 16
Welcher dieser Punkte erzielte wohl den höchsten Preis und welcher den niedrigsten? Hier die Preisliste, die sich aus dieser Untersuchung ergab (in Dollar von 1937):
Zahn: 4 500
Zeh: 57 000
Wurm: 100 000
Katze: 10 000
Kansas: 300 000
Wie Thorndike glaubte, stützten seine Befunde die Vorstellung, alle Güter seien mit einem einzigen Maßstab zu messen und zu vergleichen. »Jeder überhaupt vorhandene Wunsch oder jede Befriedigung existiert in Form eines bestimmten Betrages und ist somit messbar«, schrieb er. »Das Leben eines Hundes oder einer Katze oder eines Hühnchens (…) besteht vorwiegend aus Appetit, heftigem Verlangen, Wünschen und ihrer Befriedigung und ist davon bestimmt (…). Das gilt auch für das menschliche Leben, selbst wenn die Formen des Appetits und der Wünsche zahlreicher, subtiler und komplizierter sind.« 17
Thorndikes groteske Preisliste legt jedoch nahe, dass solche Vergleiche absurd sind. Können wir tatsächlich daraus schließen, dass die Versuchspersonen die Aussicht auf ein Leben in Kansas dreimal so unangenehm fanden wie das Verspeisen eines Regenwurms – oder unterscheiden sich diese Erfahrungen nicht vielmehr auf eine Weise, die keinen aussagekräftigen Vergleich zulässt? Thorndike räumte ein, dass bis zu einem Drittel der Probanden feststellte, keine Summe der Welt könne sie dazu bewegen, eine Erfahrung zu erleiden, die sie als »unermesslich abstoßend« bewerteten. 18
Die Mädels von St. Anne’s
Möglicherweise gibt es kein schlagendes Argument für oder gegen die Behauptung, alle moralischen Güter könnten verlustfrei auf einen einzigen Wertmaßstab übertragen werden. Doch hier ist ein weiterer Fall, der diese Behauptung in Frage stellt:
Als ich in den 70er Jahren als Doktorand in Oxford war, gab es dort für Frauen und Männer getrennte Institute. In den Instituten für Frauen galt eine Regelung, die untersagte, dass männliche Besucher in den Frauenräumen übernachteten. Diese Regel wurde selten durchgesetzt und war leicht zu umgehen (wie ich mir habe sagen lassen). Die meisten Offiziellen der Colleges sahen ihre Rolle nicht mehr darin, traditionelle Vorstellungen von Sexualmoral durchzusetzen. Der Druck, diese Regeln zu lockern, vergrößerte sich zusehends, und eine Debatte am St. Anne’s College, einem der allein Frauen vorbehaltenen Institute, wurde anberaumt.
Einige ältere Frauen der Fakultät verteidigten die Tradition. Aus althergebrachten Gründen der Moral waren sie dagegen, männliche Gäste zuzulassen; ihrer Ansicht nach war es für eine unverheiratete junge Frau unschicklich, die Nacht mit einem Mann zu verbringen. Doch die Zeiten hatten sich geändert, und den Vertreterinnen der Tradition war es peinlich, die wahren Gründe für ihre Einwände
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