Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
zu nennen. Also übersetzten sie ihre Argumente in utilitaristische Formulierungen. »Wenn Männer über Nacht bleiben«, meinten sie, »werden die Kosten für das College steigen.« Wie das, mag man sich fragen. »Nun ja, sie werden ein Bad nehmen wollen, und dadurch steigt der Verbrauch von Warmwasser«, lautete die Erklärung. Außerdem, so brachten die Frauen vor, »müssen wir die Matratzen häufiger austauschen«.
Die Reformer kamen den Argumenten der Traditionalisten entgegen und übernahmen folgenden Kompromiss: Jede Frau konnte wöchentlich maximal drei Übernachtungsgäste empfangen, vorausgesetzt, jeder Gast zahlte 50 Pence pro Nacht, um die Kosten des Colleges abzudecken. Im Guardian war am nächsten Tag folgende Schlagzeile zu lesen: »Die Mädels von St. Anne’s: Fünfzig Pence pro Nacht.« Die Sprache der Tugend hatte sich nicht besonders gut in die Sprache des Nutzens übersetzen lassen. Bald darauf wurden die Trennungsregeln ganz abgeschafft und damit auch die Gebühr.
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Besitzen wir uns selbst?
LIBERTARIANISMUS
In jedem Herbst veröffentlicht die Zeitschrift Forbes eine Liste der 400 reichsten Amerikaner. Für mehr als ein Jahrzehnt stand Microsoft-Gründer Bill Gates III an der Spitze der Liste, so auch 2008, als Forbes sein Nettovermögen auf 57 Milliarden Dollar schätzte. Zu dem Klub gehören unter anderem auch der Investor Warren Buffett (mit 50 Milliarden auf Rang zwei), die Eigentümer von Wal-Mart, die Gründer von Google und Amazon, eine Reihe von Leuten aus der Ölbranche, Hedgefonds-Manager, Medienmogule und Immobilien-Tycoons, die Fernseh-Talkmasterin Oprah Winfrey (mit 2,7 Milliarden auf Rang 155) und George Steinbrenner, Eigner der New York Yankees (mit 1,3 Milliarden auf dem letzten Rang). 1
Der Reichtum an der Spitze der amerikanischen Wirtschaft ist selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten so unermesslich, dass es kaum ausreicht, einfacher Milliardär zu sein, um in die Forbes -Liste aufgenommen zu werden. Tatsächlich besitzt ein Prozent der Amerikaner mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens – mehr als das Vermögen der unteren 90 Prozent aller amerikanischen Familien zusammen. Die oberen zehn Prozent der amerikanischen Haushalte nehmen 42 Prozent des Gesamteinkommens ein und besitzen 71 Prozent des gesamten Vermögens. 2
In den USA ist die wirtschaftliche Ungleichheit stärker ausgeprägt als in anderen Demokratien. Manche Leute meinen, eine solche Ungleichheit sei ungerecht, und sind dafür, die Reichen zu besteuern, um den Armen zu helfen. Andere sind damit nicht einverstanden. Sie sagen, an wirtschaftlicher Ungleichheit sei nichts unfair, vorausgesetzt, sie komme ohne Gewalt oder Betrug zustande, sondern aufgrund unternehmerischer Entscheidungen.
Wer hat recht? Wer glaubt, Gerechtigkeit bedeute Maximierung des Glücks, dürfte aus folgenden Gründen eine Umverteilung des Wohlstands befürworten: Nehmen wir an, wir holen uns eine Million Dollar von Bill Gates und verteilen sie unter 100 bedürftigen Empfängern, was für jeden 10 000 Dollar ergibt. Das allgemeine Glück würde dann wahrscheinlich zunehmen. Gates würde das Geld kaum vermissen, während alle Empfänger der 10 000 Dollar vermutlich glücklich über den unverhofften Geldsegen wären. Ihr kollektiver Nutzen nähme stärker zu, als der von Bill Gates abnähme.
Mit Hilfe der utilitaristischen Logik ließe sich eine ziemlich radikale Umverteilung des Reichtums begründen; sie würde uns dazu anhalten, Geld von den Reichen zu den Armen zu transferieren, bis der letzte Dollar, den wir Gates wegnehmen, ihn ebenso sehr schmerzt, wie er dem Empfänger hilft.
Dieses Szenario frei nach Robin Hood sieht sich mindestens zwei Einwänden ausgesetzt – einer stammt aus dem utilitaristischen Denken, der andere von außerhalb. Der erste Einwand betrifft die Besorgnis, hohe Steuersätze (speziell auf die Einkommen) würden den Anreiz für Arbeit und Investitionen verringern, was zu einem Rückgang der Produktivität führen würde. Wenn der wirtschaftliche Kuchen schrumpfe und weniger zu verteilen bliebe, könne das allgemeine Wohlstandsniveau sinken. Bevor der Utilitarist also Bill Gates und Oprah Winfrey hoch besteuert, müsste er fragen, ob sie deswegen weniger arbeiten und weniger verdienen würden – was wiederum den Betrag verringern müsste, der zur Umverteilung an die Bedürftigen verfügbar wäre.
Der zweite Einwand verwirft diese Berechnungen als nebensächlich. Er geht von der Überlegung aus, dass es
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