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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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also selbstbestimmt zu handeln und moralisch gemäß dem kategorischen Imperativ zu handeln ist ein und dasselbe.
    Mit dieser Art, über Moral und Freiheit nachzudenken, gelangt Immanuel Kant zu seiner vernichtenden Kritik des Utilitarismus. Die Bemühung, Moral auf bestimmte Interessen oder Wünsche (etwa Glück oder Nutzen) zu gründen, musste scheitern. »Denn man bekam niemals Pflicht, sondern Notwendigkeit der Handlung aus einem gewissen Interesse heraus.« Und bei jedem auf Interesse gegründeten Prinzip »musste der Imperativ jederzeit bedingt ausfallen, und konnte zum moralischen Gebote gar nicht taugen«. 25

Fragen an Kant
    Kants Moralphilosophie ist kraftvoll und überzeugend – wenn auch nicht unbedingt leicht zugänglich. Wer ihr bis hierher gefolgt ist, hat vielleicht ein paar Fragen. Es folgen vier der wichtigsten:
    Frage 1: Kants kategorischer Imperativ verlangt von uns, jeden mit Achtung zu behandeln – als einen Zweck an sich selbst. Ist das nicht ziemlich das Gleiche wie die goldene Regel »Was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem andern zu«?
    Antwort: Nein. Die goldene Regel hängt davon ab, wie Menschen gerne behandelt werden möchten. Der kategorische Imperativ fordert, dass wir von solchen Zufälligkeiten absehen und Menschen als vernünftige Wesen achten, unabhängig davon, was sie in einer bestimmten Lage vielleicht wünschen mögen.
    Nehmen wir an, jemand erfährt, dass sein Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die betagte und gebrechliche Mutter, die in einem Pflegeheim lebt, erkundigt sich nach ihm. Soll man ihr nun die Wahrheit sagen oder ihr den Schock und den Schmerz ersparen? Was ist das Richtige? Die goldene Regel würde fragen: »Wie möchtest du unter ähnlichen Umständen behandelt werden?« Die Antwort dürfte verschieden ausfallen. Manche würden es vorziehen, in schutzlosen Momenten von harten Wahrheiten verschont zu bleiben; andere wollen die Wahrheit wissen, auch wenn sie schmerzt.
    Für Kant hingegen ist das die falsche Frage. Es kommt nicht darauf an, wie man sich selbst (oder wie sich die Mutter) unter diesen Umständen fühlen würde, sondern darauf, was es bedeutet, jemanden als vernünftiges Wesen zu behandeln. Hier liegt ein Fall vor, in dem das Mitleid in die eine Richtung weisen dürfte, die Kant’sche Pflichtethik jedoch in die andere. Würde man seine Mutter aus Rücksicht auf ihre Gefühle belügen, würde man sie aus Sicht des kategorischen Imperativs wohl eher als Mittel benutzen, ihr Wohlbefinden zu erhalten, anstatt sie als vernünftiges Wesen zu achten.
    Frage 2 : Kant scheint zu meinen, autonomes Handeln und Pflichtgehorsam seien dasselbe. Aber wie kann das sein? Gemäß einer Pflicht zu handeln heißt, einem Gesetz zu gehorchen. Wie kann Unterwerfung unter ein Gesetz mit Freiheit vereinbar sein?
    Antwort: Pflicht und Selbstbestimmung fallen nur unter einer einzigen Bedingung zusammen: wenn ich selbst Schöpfer des Gesetzes bin, dem ich zu gehorchen habe. Meine Würde als freier Mensch besteht nicht darin, dass ich dem moralischen Gesetz unterworfen bin, sondern darin, dass ich Urheber dieses Gesetzes bin. Wenn wir uns an den kategorischen Imperativ halten, halten wir uns an ein Gesetz, das wir selbst gewählt haben. »Die Würde eines vernünftigen Wesens« besteht genau darin, dass es »keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt«. 26
    Frage 3 : Wenn Selbstbestimmung heißt, gemäß einem Gesetz zu handeln, das ich mir selbst gebe, was garantiert dann, dass jedermann sich für dasselbe moralische Gesetz entscheidet? Falls der kategorische Imperativ das Produkt meines Willens ist, ist es dann nicht wahrscheinlich, dass verschiedene Menschen mit unterschiedlichen kategorischen Imperativen ankommen? Kant scheint zu glauben, wir würden alle dem gleichen moralischen Gesetz zustimmen. Wie aber können wir sicher sein, dass andere Menschen nicht anders argumentieren und zu unterschiedlichen moralischen Gesetzen gelangen?
    Antwort: Wenn wir das moralische Gesetz wollen, wählen wir es nicht als die spezielle Person, die jeder von uns ist, sondern mit unserer »reinen praktischen Vernunft«. Es wäre verkehrt anzunehmen, das moralische Gesetz würde von uns als Individuen gewählt. Wenn wir von unseren persönlichen Interessen, Begierden und Zwecken aus argumentieren, mag uns das natürlich zu einer beliebigen Zahl von Prinzipien führen. Doch wären dies nach Kant keine moralischen Grundsätze, sondern bestenfalls

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