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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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23 Das ist die Formel für die Menschheit als Zweck.
    Sehen wir uns erneut das falsche Versprechen an. Mit Hilfe der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs erkennen wir aus einer leicht veränderten Perspektive, warum diese Handlungsweise verkehrt ist. Wenn ich verspreche, das Geld zurückzuzahlen, das ich mir leihen möchte, obwohl ich weiß, dass ich das nicht kann, manipuliere ich mein Gegenüber. Ich benutze ihn als Mittel für meine finanzielle Solvenz und behandle ihn nicht als jemanden, der Achtung verdient.
    Nehmen wir nun den Suizid. Anzumerken ist hier, dass sowohl Mord als auch Suizid zum kategorischen Imperativ in Widerspruch stehen. Mord und Suizid betrachten wir moralisch gesehen oft als völlig verschiedene Handlungen: Jemand anderen zu töten heißt, ihm gegen seinen Willen das Leben zu nehmen, während Suizid die Entscheidung desjenigen ist, der ihn begeht. Doch Kants Forderung, die Menschheit als Zweck zu behandeln, schließt Mord und Suizid aus demselben Grund aus.
    Wenn ich einen Mord begehe, nehme ich jemandem das Leben, weil ich irgendein persönliches Interesse verfolge – ich will etwa eine Bank ausrauben, meine politische Macht konsolidieren oder meine Wut ablassen. Ich benutze das Opfer als Mittel und missachte seine Menschlichkeit. Deshalb verstößt Mord gegen den kategorischen Imperativ.
    Für Kant verstößt Suizid in gleicher Weise gegen den kategorischen Imperativ. Wenn ich mein Leben beende, um einer schmerzlichen Situation zu entkommen, benutze ich mich selbst als Mittel, um mein eigenes Leiden zu beenden. Doch eine Person ist, wie Kant uns in Erinnerung ruft, keine Sache, »mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann«. Ich habe nicht das Recht, über die Menschheit in meiner Person zu verfügen – so wenig wie über irgendeinen anderen Menschen. Für Kant ist der Suizid aus demselben Grund falsch wie der Mord. In beiden Fällen werden Menschen als Sachen behandelt, und die Menschheit als Zweck an sich selbst wird missachtet. 24
    Das Beispiel des Suizids stellt ein entscheidendes Merkmal dessen heraus, was Kant als unsere Pflicht ansieht: unsere Mitmenschen zu achten. Für Kant gehen Selbstachtung und Achtung für andere Menschen aus ein und demselben Grundsatz hervor. Die Pflicht zur Achtung schulden wir ausnahmslos allen vernünftigen Wesen. Ganz egal, um wen es sich dabei konkret handelt.
    Es gibt einen Unterschied zwischen Achtung und anderen Formen menschlicher Bindung. Liebe, Zuneigung, Solidarität und Freundschaft sind moralische Empfindungen, die uns stärker zu einigen Menschen hinziehen als zu anderen. Sie haben damit zu tun, wer sie im Besonderen sind. Wir lieben unsere Ehepartner und die Mitglieder unserer Familie. Wir empfinden Zuneigung für Menschen, mit denen wir uns identifizieren können. Wir empfinden Solidarität mit unseren Freunden und Gefährten.
    Doch die Kant’sche Achtung ist Achtung für den Menschen als solchen, für seine Fähigkeit zur Vernunft, die ohne Unterschied uns allen zu eigen ist. Das erklärt, warum der Kant’sche Grundsatz der Achtung sich für die Begründung der allgemeinen Menschenrechte anbietet. Für Kant ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, die Menschenrechte ausnahmslos allen Personen zu gewähren, unabhängig davon, wo sie leben oder wie gut wir sie kennen. Einfach deshalb, weil sie der Vernunft fähige Menschen sind, haben wir sie entsprechend zu achten.

Moral und Freiheit
    Mittlerweile können wir die Verbindung zwischen Moral und Freiheit so sehen, wie Kant sie sich vorstellt. Moralisch handeln heißt demnach aus Pflicht handeln – um des moralischen Gesetzes willen. Das moralische Gesetz besteht aus einem kategorischen Imperativ, einem Grundsatz, der uns auffordert, Menschen – als Zweck an sich selbst – mit Respekt zu behandeln. Nur wenn ich in Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ handle, handle ich frei. Denn wann immer ich gemäß einem hypothetischen Imperativ handle, handle ich wegen eines bestimmten Interesses oder Zwecks, der außerhalb meiner selbst existiert. Mein Wille wird nicht durch mich bestimmt, sondern durch äußere Kräfte – denen ich zufällig unterworfen bin.
    Dem Diktat der Natur und der Umstände kann ich nur entkommen, indem ich selbstbestimmt handle, gemäß einem Gesetz, das ich mir – unabhängig von meinen Wünschen und Begierden – selbst gebe. Somit sind Kants anspruchsvolle Vorstellungen von Freiheit und Sittlichkeit miteinander verbunden. Frei,

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