Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Moralität wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich, uns selbst zu verstehen und unserem Leben einen Sinn zu geben. Und jede solche Idee, glaubt Kant, verpflichtet uns dazu, beide Standpunkte – den des Handelnden und den des Objekts – gleichermaßen wahrzunehmen. Sobald man die Kraft dieses Bildes erkannt hat, sieht man, warum die Wissenschaft die Möglichkeit der Freiheit nie beweisen oder widerlegen kann.
Erinnern wir uns: Kant räumt ein, dass wir nicht nur vernünftige Wesen sind. Wir leben nicht nur in der Welt des Verstandes. Wären wir lediglich rationale, den Gesetzen und Zwängen der Natur nicht unterworfene Wesen, würden alle unsere Handlungen »der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein«. 32 Weil wir aber im Reich der Notwendigkeit und im Reich der Freiheit zugleich leben, gibt es potentiell immer eine Lücke zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir tun sollten – zwischen der Art, wie die Dinge sind, und der Art, wie sie sein sollten.
Anders formuliert: Moralität ist nicht empirisch. Sie steht ein Stück weit abseits vom Getriebe der Welt. Sie gibt ein Urteil über die Welt ab. Die Naturwissenschaft kann moralische Fragen nicht erfassen, weil sie innerhalb der Sinnenwelt operiert.
»Daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln.« 33 Und das gilt auch für die kognitive Neurowissenschaft, wie raffiniert sie auch sein mag. Wissenschaft kann die Natur erforschen und die empirische Welt befragen, aber moralische Fragen beantworten oder den freien Willen widerlegen kann sie nicht. Denn Moralität und Freiheit sind keine empirischen Vorstellungen. Wir können nicht beweisen, dass es sie gibt, aber unserem moralischen Leben können wir keinen Sinn geben, wenn wir sie nicht voraussetzen.
Sex, Lügen und Politik
Kants Moralphilosophie lässt sich unter anderem ausloten, indem man sich ansieht, wie er sie auf einige konkrete Fragen angewandt hat. Ich möchte beispielhaft drei Anwendungsfelder betrachten: Sex, Lügen und Politik. Philosophen sind nicht immer die besten Interpreten ihrer eigenen Philosophie. Doch Kants Überlegungen sind schon für sich genommen interessant und werfen auch etwas Licht auf seine Philosophie als Ganzes.
Kants Argumentation gegen
Gelegenheitssex
Was die Sexualmoral angeht, vertritt Kant traditionelle und konservative Ansichten. Abgesehen vom Beischlaf zwischen Ehemann und Ehefrau, lehnt er jede vorstellbare Sexualpraxis ab. Ob alle Ansichten Kants zur Sexualität aus seiner Moralphilosophie folgen, ist nicht so entscheidend wie die darunterliegende Vorstellung, dass wir uns nicht selbst besitzen und deshalb auch nicht frei über uns verfügen können. Gegen gelegentlichen, einvernehmlichen Sex (darunter versteht er außerehelichen Sex) spricht er sich deshalb aus, weil dieser beide Partner abwertet und zu Objekten degradiert. Gelegenheitssex sei unzulässig, denkt Kant, weil es nur darum gehe, die eigene sexuelle Begierde zu befriedigen, und nicht um die Achtung vor der Menschlichkeit des Partners.
Die Neigung, die man zum Weibe hat, geht nicht auf sie als auf einen Menschen, sondern weil sie ein Weib ist, demnach ist einem Manne die Menschheit am Weibe gleichgültig und nur das Geschlecht der Gegenstand seiner Neigungen. 34
Selbst wenn Gelegenheitssex mit der wechselseitigen Befriedigung der Partner einhergeht, »so ist diese Neigung ein Principium der Erniedrigung der Menschheit, ein Quell, ein Geschlecht dem anderen vorzuziehen und es aus Befriedigung der Neigung zu entehren«. 35 (Aus Gründen, auf die wir gleich kommen werden, glaubt Kant, die Ehe hebe die Sexualität auf eine höhere Stufe, weil sie sie außerhalb physischer Belohnung stelle und sie mit der Würde des Menschen in Einklang bringe.)
Was die Prostitution betrifft, so fragt Kant, unter welchen Bedingungen der Gebrauch unserer geschlechtlichen Fähigkeiten moralisch vertretbar sei. In dieser wie in anderen Situationen lautet seine Antwort, dass wir andere – oder uns selbst – nicht als bloße Objekte behandeln sollten. In starkem Kontrast zu libertarianischen Vorstellungen des Selbsteigentums beharrt Kant darauf, dass wir uns nicht selbst besitzen. Die moralische Forderung, Personen als Zwecke statt als bloße Mittel zu behandeln, beschränkt die Verwendungsmöglichkeiten unseres Körpers. »Der Mensch kann über sich selbst nicht disponieren, weil er keine Sache ist. Der Mensch ist nicht ein Eigentum von
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