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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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Alltagsweisheiten. Sofern wir uns der reinen praktischen Vernunft bedienen, sehen wir von unseren Partikularinteressen ab, so dass jeder zum selben Schluss kommen muss – zum universell gültigen kategorischen Imperativ. »Also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.« 27
    Frage 4 : Kant meint, dass Moral, wenn sie mehr sei als eine Frage der Berechnung, die Form eines kategorischen Imperativs annehmen müsse. Wie aber können wir wissen, ob eine Moral unabhängig vom Spiel der Macht und der Interessen existiert? Können wir je sicher sein, dass wir imstande sind, selbstbestimmt und aus freiem Willen zu handeln? Was ist, wenn Wissenschaftler (etwa durch bildgebende Verfahren oder mit Hilfe der kognitiven Neurowissenschaft) entdecken, dass wir gar keinen freien Willen haben? Wäre Kants Moralphilosophie damit widerlegt?
    Antwort: Die Willensfreiheit gehört nicht zu den Dingen, die die Wissenschaft beweisen oder widerlegen kann. Das gilt auch für die Moral. Zwar sind Menschen Bewohner des Reichs der Natur; alles, was wir tun, lässt sich aus physikalischer oder biologischer Sicht beschreiben. Wenn ich meine Hand hebe, um abzustimmen, kann meine Handlung durch Begriffe dargestellt werden, die sich auf Muskeln, Neuronen, Synapsen und Zellen beziehen. Sie kann aber auch durch Vorstellungen und Überzeugungen beschrieben werden. Kant sagt, es bleibe uns gar nichts anderes übrig, als uns von beiden Standpunkten aus zu verstehen – dem empirischen Reich von Physik und Biologie und einem »intelligiblen« Reich des freien menschlichen Handelns.
    Um diese Frage eingehender beantworten zu können, muss ich ein wenig mehr zu diesen beiden Sichtweisen sagen, die wir gegenüber dem menschlichen Handeln und den unser Handeln bestimmenden Gesetzen einnehmen können. Zum einen unterliegt der Mensch, so Kant, den Naturgesetzen, zweitens ist er aber auch der intelligiblen Welt zugehörig und unterliegt damit Gesetzen, die »nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet« sind. 28
    Der Gegensatz zwischen beiden Perspektiven passt ins Schema:
Gegensatz 1 (Sittlichkeit): Pflicht vs. Neigung
Gegensatz 2 (Freiheit): Selbst- vs. Fremdbestimmung
Gegensatz 3 (Vernunft): kategorische vs. hypothetische Imperative
Gegensatz 4 (Standpunkte): intelligible Welt vs. Sinnenwelt
    Als Naturwesen gehöre ich zur Sinnenwelt. Meine Handlungen sind bestimmt von den Naturgesetzen und den Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung. Diesen Aspekt des menschlichen Tuns können Physik, Biologie und Neurowissenschaften beschreiben. Als Vernunftwesen lebe ich in einer Verstandeswelt. Unabhängig von den Naturgesetzen bin ich hier zur Autonomie fähig – ich kann gemäß einem Gesetz handeln, das ich mir selbst gebe. Kant meint, nur von diesem zweiten (intelligiblen) Standpunkt aus könne ich mich selbst als frei ansehen, »denn Unabhängigkeit von den bestimmten Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muss) ist Freiheit«. 29
    Wäre ich nur ein rein empirisches Wesen, dann wäre ich zur Freiheit nicht fähig; jede Willensausübung wäre durch irgendwelche Interessen oder Begierden bedingt, und jede Wahl wäre eine heteronome Entscheidung, gelenkt von der Verfolgung irgendeines Zwecks. Mein Wille könnte nie eine erste Ursache sein, sondern nur die Wirkung einer vorhergegangenen Ursache, das Werkzeug eines Impulses oder einer Neigung.
    Insofern wir uns als frei denken, können wir uns nicht ausschließlich als empirische Wesen denken. »Denn jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und erkennen die Autonomie des Willens, samt ihrer Folge, der Moralität.« 30
    Wie also sind – um zur Ausgangsfrage zurückzukehren – kategorische Imperative möglich? Nur weil »die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht«. 31 Die Vorstellung, dass wir frei handeln, die moralische Verantwortung für unsere Handlungen übernehmen und andere Menschen als moralisch verantwortlich für deren Handlungen betrachten können – all das erfordert, dass wir uns selbst aus dieser Perspektive sehen, vom Standpunkt eines Handelnden und nicht eines bloßen Objekts.
    Wer sich dieser Vorstellung wirklich widersetzen und behaupten will, menschliche Freiheit und moralische Verantwortung seien pure Illusion, der kann durch Kants Erklärung nicht widerlegt werden. Doch ohne eine gewisse Idee von Freiheit und

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