Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
sich selbst.« 36
Wer in den heutigen Debatten über Sexualmoral die Selbstbestimmungsrechte anführt, argumentiert, dass der Einzelne sehr wohl frei darüber entscheiden dürfe, was er mit seinem eigenen Körper anstelle. Doch das ist nicht das, was Kant unter Autonomie versteht. Paradoxerweise setzt seine Vorstellung von Selbstbestimmung gewisse Grenzen für die Art und Weise, in der wir mit uns selbst umgehen dürfen. Denn erinnern wir uns: Autonom sein heißt, von einem Gesetz – dem kategorischen Imperativ – regiert zu werden, das man sich selbst gegeben hat. Und der kategorische Imperativ erfordert, dass ich alle Menschen (mich selbst eingeschlossen) mit Respekt behandle – als Zweck, nicht bloß als Mittel. Autonom handeln heißt für Kant also, sich selbst mit Respekt zu behandeln und sich nicht selbst zum Objekt zu degradieren.
Zu Kants Zeiten gab es noch keinen Markt für Nieren, doch die Reichen kauften von den Armen Zähne, um sie sich implantieren zu lassen. (Die Zeichnung Transplanting of Teeth des englischen Karikaturisten Thomas Rowlandson aus dem 18. Jahrhundert zeigt eine Szene im Behandlungszimmer eines Dentisten, wo ein Wundarzt einem Schornsteinfeger Zähne zieht, während wohlhabende Damen auf ihre Implantate warten.) Kant betrachtete diese Praxis als Verletzung der menschlichen Würde. Ein Mensch »ist nicht befugt, einen Zahn oder ein anderes Glied von sich zu verkaufen«. 37 Wer es tue, behandele sich selbst als Objekt, als bloßes Mittel, als Werkzeug für Profite.
Die Prostitution hielt Kant aus denselben Gründen für verwerflich. »Wenn nun aber eine Person sich aus Interesse als ein Gegenstand der Befriedigung der Geschlechterneigung des anderen gebrauchen lässt, dann (…) macht sie sich dadurch zu einer Sache, wodurch der andere seinen Appetit stillt, ebenso wie durch Schweinsbraten seinen Hunger.« Menschen seien »nicht befugt, zur Befriedigung der Geschlechterneigung aus Interesse sich als eine Sache dem anderen zum Gebrauch darzugeben«. So zu handeln hieße nämlich, eine Person als bloße Sache zu behandeln, als Gebrauchsgegenstand. »Der moralische Grund ist also, dass der Mensch nicht sein Eigentum sei und mit seinem Körper machen kann, was er will.« 38
Kants Einspruch gegen Prostitution und Gelegenheitssex arbeitet den Gegensatz zwischen der Autonomie in seinem Sinn – dem freien Willen eines vernünftigen Wesens – und individuellen einvernehmlichen Handlungen heraus. Das moralische Gesetz, zu dem wir durch die Ausübung unseres Willens gelangen, verlangt, dass wir die Menschheit – in uns selbst wie in anderen Menschen – nie nur als Mittel behandeln, sondern als Zweck an sich selbst. Obwohl diese moralische Forderung auf der Autonomie des Individuums beruht, schließt sie gewisse einvernehmliche Handlungen unter Erwachsenen aus – nämlich jene, die im Widerspruch zur menschlichen Würde und zur Selbstachtung stehen.
Kant kommt zu dem Schluss, nur Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe könne die »Abwertung der Menschlichkeit« vermeiden. Lediglich dann, wenn zwei Menschen einander gänzlich überlassen und nicht nur den Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften, könne Sex den anderen nicht zum Objekt machen. Nur wenn ein Mensch dem anderen »seine Person, sein Glück, sein Unglück und alle seine Umstände übergibt«, könne die Geschlechterneigung unter den »Menschen eine Vereinigung« 39 hervorbringen.
Kant sagt nicht, dass jede Ehe eine solche Vereinigung mit sich bringt. Und er hat vermutlich unrecht, wenn er glaubt, solche Vereinigungen könnten niemals außerhalb der Ehe auftreten oder sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe würden nichts weiter als sexuelle Belohnungen bereithalten. Doch seine Ansichten zur Sexualität stellen den Unterschied zwischen zwei Ideen heraus, die in heutigen Debatten oft durcheinandergebracht werden – zwischen einer Ethik der Selbstverwirklichung und einer Ethik, in der die Achtung vor der Autonomie und Würde der Menschen im Zentrum steht.
Ist es falsch, einen Mörder zu belügen?
Was das Lügen angeht, vertritt Kant eine harte Einstellung. In der Grundlegung dient es ihm als wichtigstes Beispiel für unmoralisches Verhalten. Aber nehmen wir an, ein Freund versteckt sich bei uns zu Hause, und ein Mörder, der nach ihm sucht, kommt an die Tür. Wäre es nicht richtig, den Mörder zu belügen? Kant verneint das. Die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, besteht ungeachtet der Folgen.
Benjamin Constant, ein französischer
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