Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
hatte. Für manchen mag das wie Bevormundung aussehen – und das war es auch. (Für genau solche Situationen ist sie ja schließlich da.) Aber unter diesen Umständen können rein freiwillige Tauschakte eben eindeutig unfair sein.
Vor einigen Jahren las ich einen Zeitungsbericht über einen extremeren Fall: In der Toilette einer betagten Witwe in Chicago war etwas undicht. Für die Reparatur beauftragte sie einen Handwerker – für 50 000 Dollar. Sie unterschrieb einen Vertrag, der sie verpflichtete, 25 000 Dollar als Abschlag zu bezahlen und den Rest nach Auftragserfüllung. Der Plan flog auf, als sie zur Bank ging, um die 25 000 Dollar abzuheben. Der Bankangestellte erkundigte sich, wofür sie so viel Geld abheben wolle, und die Frau erwiderte, sie müsse den Klempner bezahlen. Der Angestellte benachrichtigte die Polizei, die den skrupellosen Handwerker wegen Betruges verhaftete. 4
Abgesehen von den hartgesottensten Verfechtern der Vertragsfreiheit würde wohl jeder zugeben, dass die Vereinbarung über eine Toilettenreparatur für 50 000 Dollar ungeheuer unfair war – und zwar ungeachtet der Tatsache, dass zwei Parteien bewusst zugestimmt hatten. Dieser Fall illustriert zwei Aspekte der moralischen Grenzen von Verträgen: Erstens garantiert eine Abmachung nicht, dass diese Übereinkunft fair ist. Zweitens reicht sie auch nicht aus, einen verbindlichen moralischen Anspruch zu begründen. Der geschilderte Vertrag ist alles andere als ein Werkzeug zum beiderseitigen Vorteil – er spricht dem Ideal der Gegenseitigkeit Hohn. Das erklärt meiner Ansicht nach, warum nur wenige darauf bestehen würden, die betagte Dame sei moralisch verpflichtet gewesen, den skandalösen Betrag zu bezahlen.
Man könnte erwidern, dass dem Klempnerbetrug kein wirklich freiwillig abgeschlossener Vertrag zugrunde lag, sondern dass es sich hierbei um eine Form der Ausbeutung gehandelt habe, in der ein rücksichtsloser Handwerker eine alte Frau übervorteilte, die es nicht besser wusste. Ich kenne den Fall zwar nicht in allen Einzelheiten, aber gehen wir einmal davon aus, dass der Klempner die Frau nicht gezwungen hat und sie geistig gesund war (wenn auch schlecht informiert über die Kosten von Klempnerarbeiten), als sie der Abmachung zustimmte. Die Tatsache, dass die Vereinbarung freiwillig erfolgte, garantiert in keiner Weise, dass es dabei um den Austausch gleichwertiger Güter ging.
Bislang habe ich versucht zu zeigen, dass eine Abmachung keine hinreichende Bedingung für eine moralische Verpflichtung ist; sie kann vom Ideal des gegenseitigen Nutzens so weit entfernt sein, dass sie auch durch ihren freiwilligen Charakter nicht zu retten ist. Nun möchte ich eine weitere, provokantere Behauptung aufstellen: Übereinkunft ist keine notwendige Bedingung für eine moralische Verpflichtung. Wenn der gegenseitige Nutzen hinreichend deutlich ist, dann könnte der moralische Imperativ der Gegenseitigkeit sogar ohne einen Akt der Übereinkunft gelten.
Sams mobiler Autodienst
Hier noch ein Beispiel für die Verwirrung, die aufkommen kann, wenn die auf Zustimmung aufbauende von der auf der erbrachten Leistung beruhenden Verpflichtung nicht klar unterschieden wird. Vor vielen Jahren fuhr ich als Doktorand mit ein paar Freunden quer durchs Land. Wir hielten an einer Raststätte in Hammond, Indiana, und gingen in einen Laden. Als wir zu unserem Auto zurückkamen, sprang es nicht mehr an. Keiner von uns hatte viel Ahnung von Autos. Als wir überlegten, was wir tun konnten, hielt neben uns ein Lieferwagen. Er trug die Aufschrift »Sams Mobile Repair Van«. Ein Mann, vermutlich Sam, stieg aus.
Er kam näher und fragte, ob er helfen könne. »Hier meine Bedingungen«, erklärte er. »Ich berechne 50 Dollar die Stunde. Wenn ich das Auto in fünf Minuten repariere, schulden Sie mir 50 Dollar. Wenn ich eine Stunde mit dem Auto beschäftigt bin und es nicht reparieren kann, schulden Sie mir trotzdem 50 Dollar.«
»Wie stehen die Chancen, dass Sie das Auto reparieren können?«, fragte ich. Ohne mir zu antworten, fing er an, unter der Lenksäule herumzufummeln. Ich war unsicher, was zu tun war, meine Freunde ebenfalls. Nach kurzer Zeit kam der Mann wieder unter der Lenksäule hervor und erklärte: »Schön, mit dem Zündsystem ist alles in Ordnung, aber wir haben noch 45 Minuten übrig. Wollen Sie, dass ich einen Blick unter die Haube werfe?«
»Moment mal«, sagte ich. »Ich habe Sie gar nicht beauftragt. Wir haben keinerlei Abmachung getroffen.«
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