Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
um die Grundsätze, die unser Gemeinschaftsleben beherrschen und uns unsere Rechte und Pflichten als Bürger zuweisen sollen. Ein solcher Vertrag ließe keinen Raum für Zwang, Täuschung oder andere unfaire Vorteile. Seine Klauseln, wie immer sie lauten mögen, wären allein aufgrund der Vereinbarung gerecht.
Wer sich einen solchen Vertrag vorstellen kann, ist bei Rawls’ Vorstellung von einer hypothetischen Vereinbarung im Urzustand der Gleichheit angelangt. Der Schleier des Nichtwissens garantiert die Gleichheit von Macht und Sachkenntnis und stellt sicher, dass niemand seinen eigenen Platz in der Gesellschaft, seine Stärken oder Schwächen, seine Werte oder Ziele kennt. Diese Unkenntnis sorgt so dafür, dass niemand (nicht einmal unwissentlich) von einer günstigen Verhandlungsposition profitieren kann.
Wird die Kenntnis von Einzelumständen zugelassen, so ist das Ergebnis durch Zufälligkeiten verzerrt (…). Sollen sich aus dem Urzustand gerechte Vereinbarungen ergeben, so müssen sich die Vertragspartner in fairen Situationen befinden und als moralische Subjekte gleich behandelt werden. Die Willkür in der Welt muss in Form der ursprünglichen Vertragssituation zurechtgerückt werden. 10
Der Witz besteht darin, dass eine hypothetische Vereinbarung hinter einem Schleier des Nichtwissens nicht etwa ein blasser Abklatsch richtiger Verträge und damit moralisch schwächer ist; nein, sie ist die reine Form eines perfekten Vertrages und damit moralisch stärker.
Zwei Grundsätze der Gerechtigkeit
Nehmen wir an, Rawls hätte recht: Über Gerechtigkeit sollten wir nachdenken, indem wir uns fragen, welche Grundsätze wir in einem Urzustand der Gleichheit hinter einem Schleier des Nichtwissens wählen würden. Welche Prinzipien ergäben sich daraus?
Rawls zufolge würden wir uns nicht für den Utilitarismus entscheiden. Hinter dem Schleier des Nichtwissens bleibt uns ja verborgen, wo wir in der Gesellschaft landen werden. Wir wissen aber, dass wir mit Achtung behandelt werden wollen. Falls sich erweist, dass wir einer ethnischen oder religiösen Minderheit angehören, wollen wir nicht unterdrückt werden, selbst wenn die Mehrheit davon profitiert. Sobald der Schleier des Nichtwissens sich hebt und das richtige Leben beginnt, wollen wir uns nicht als Opfer religiöser Verfolgung oder rassischer Diskriminierung wiederfinden. Um uns vor diesen Gefahren zu schützen, würden wir den Utilitarismus verwerfen und dem Grundsatz gleicher Grundfreiheiten – einschließlich der Rede- und der Gedankenfreiheit – für alle Bürger zustimmen. Und wir würden darauf bestehen, dass dieser Grundsatz Vorrang vor allen Versuchen hätte, das Gemeinwohl zu maximieren. Für soziale und ökonomische Vorteile würden wir unsere Grundrechte und Freiheiten nicht opfern.
Welchen Grundsatz würden wir wählen, um soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zu regulieren? Der Gefahr, uns in erdrückender Armut wiederzufinden, könnten wir begegnen, indem wir eine gleiche Verteilung von Einkommen und Wohlstand anstreben. Allerdings könnte uns auch der Gedanke kommen, dass es für alle – auch für die Ärmsten – besser wäre, ein gewisses Maß an Ungleichheit zuzulassen, etwa höhere Bezahlung für Ärzte und weniger Geld für Busfahrer, vielleicht weil dadurch der Zugang zu medizinischer Versorgung für die Armen erleichtert würde. Wenn wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen, übernehmen wir das, was Rawls als »Unterschiedsprinzip« bezeichnet: Erlaubt sind nur die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten, die sich zum Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.
Wie egalitär ist das Unterschiedsprinzip überhaupt? Das ist schwer zu sagen, weil der Effekt von Einkommensunterschieden von den sozialen und wirtschaftlichen Umständen abhängt. Angenommen, eine höhere Bezahlung für Ärzte würde zu einer besseren und umfangreicheren medizinischen Versorgung in verarmten ländlichen Gebieten führen. In diesem Fall könnte der Einkommensunterschied mit Rawls’ Grundsatz vereinbar sein. Aber angenommen, eine höhere Bezahlung für Ärzte würde sich nicht auf den Gesundheitsdienst in den Appalachen auswirken, sondern einfach für mehr Schönheitschirurgen in Beverly Hills sorgen. In diesem Fall wäre der Einkommensunterschied aus Rawls’ Sicht nur schwer zu rechtfertigen.
Was ist mit den Millioneneinkünften des Basketballspielers Michael Jordan oder dem gewaltigen Vermögen von Bill Gates?
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