Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Könnten diese Ungleichheiten mit dem Unterschiedsprinzip vereinbar sein? Selbstverständlich – Rawls’ Theorie will nicht bewerten, wie fair das Salär eines einzelnen Menschen ist; sie befasst sich vielmehr mit der Grundstruktur der Gesellschaft und der Art und Weise, in der sie Rechte und Pflichten, Einkommen und Wohlstand, Macht und Chancen vergibt. Für Rawls geht es um die Frage, ob Gates’ Vermögen als Teil eines Systems zustande gekommen ist, das insgesamt gesehen zum Vorteil der am wenigsten Begünstigten wirkt. Existiert beispielsweise ein System der progressiven Besteuerung, das die Vermögenden stärker besteuert, um damit den Armen Gesundheit, Ausbildung und Wohlfahrt zu finanzieren? Falls dem so ist und falls das System den Armen ein besseres Leben ermöglicht als bei einer egalitäreren Regelung, könnten solche Ungleichheiten mit dem Unterschiedsprinzip in Einklang stehen.
Einige Philosophen fragen sich jedoch, ob die Menschen des Urzustands tatsächlich das Unterschiedsprinzip wählen würden. Wie kann Rawls wissen, dass die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht Zocker wären, bereit, ihre Chancen in einer hochgradig ungleichen Gesellschaft zu suchen – in der Hoffnung, ganz oben zu landen? Möglicherweise würde mancher sogar für eine Feudalgesellschaft stimmen, um König werden zu können –, und dafür das Risiko in Kauf nehmen, als landloser Leibeigener zu enden.
Rawls glaubt nicht, dass Menschen, die Grundsätze zur Regelung ihrer grundlegenden Lebensaussichten wählen, sich auf solche Risiken einließen. Solange sie nicht wüssten, dass sie gerne hohe Risiken eingehen (und der Schleier des Nichtwissens verbirgt dieses Wissen vor ihnen), würden die Menschen keine riskanten Wetten mit hohen Einsätzen abschließen.
Doch Rawls’ Begründung für das Unterschiedsprinzip beruht nicht ausschließlich auf der Annahme, die Menschen im Urzustand seien risikoscheu. Der Idee vom Schleier des Nichtwissens liegt ein moralisches Argument zugrunde, das unabhängig von diesem Gedankenexperiment ist. Der Grundgedanke läuft darauf hinaus, dass die Verteilung von Einkommen und Chancen nicht auf Faktoren aufbauen sollte, die aus moralischer Sicht willkürlich sind.
Ein egalitärer Alptraum
Diese Sorge spielt Kurt Vonnegut in seiner Kurzgeschichte »Harrison Bergeron« als negative Utopie durch. »Man schrieb das Jahr 2081«, beginnt die Story, »und alle waren endlich gleich (…). Niemand war schlauer als irgendein anderer. Niemand sah besser aus als der andere. Niemand war stärker oder schneller als der andere.« Diese durchgängige Gleichheit wurde von Vertretern des Zentralen Störungsausgleichs durchgesetzt. Bürger, die mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz geschlagen waren, hatten einen kleinen geistigen Störsender im Ohr zu tragen. Ungefähr alle 20 Sekunden sandte der Sender ein scharfes Geräusch, um Leute wie G. davon abzuhalten, »dass sie aus ihren Geistesgaben einen unfairen Nutzen zogen«. 15
Der 14-jährige Harrison Bergeron ist ungewöhnlich intelligent, hübsch und begabt, weshalb er mit schwereren Handicaps versehen wird als die meisten anderen. Statt des kleinen Ohrsenders »trug er ein riesiges Paar Kopfhörer und eine Brille mit dicken, gewellten Linsen.« Um sein gutes Aussehen zu verbergen, verlangte man, dass Harrison ständig »einen roten Gummiball als Nase trug, seine Augenbrauen abrasierte und seine ebenmäßigen weißen Zähne mit unregelmäßig hervorstehenden schwarzen Kappen überzog.« Um seine körperliche Stärke auszugleichen, musste er beim Gehen schwere Metallgewichte tragen. »Während er um sein Leben rannte, trug Harrison ein Gewicht von 300 Pfund.« 16
Eines Tages, in einem Akt heroischen Widerstandes gegen die egalitäre Tyrannei, wirft Harrison seine Behinderungen ab. Um der Story nicht die Pointe zu nehmen, verrate ich nicht, wie sie ausgeht. Doch es sollte bereits deutlich geworden sein, wie Vonneguts Story eine vertraute Klage gegen egalitäre Theorien der Gerechtigkeit veranschaulicht.
Doch auf Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit trifft dieser Einwand nicht zu. Er zeigt, dass nivellierende Gleichheit nicht die einzige Alternative zu einer meritokratischen Marktgesellschaft ist. Seine Alternative, die er das »Unterschiedsprinzip« nennt, korrigiert die ungleiche Verteilung von Talenten und Voraussetzungen, ohne die Befähigten zu behindern. Wie das? Ermutige die Begabten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, aber
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