Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Der Mann wurde sehr wütend und erklärte: »Wollen Sie damit sagen, Sie hätten mich nicht bezahlt, wenn ich gerade eben Ihr Auto repariert hätte, als ich unter die Lenksäule schaute?«
Ich erwiderte: »Das ist eine andere Frage.«
Ich habe damals darauf verzichtet, ihn auf den Unterschied zwischen einer Vereinbarung und einer erbrachten Leistung als Grundlage von Verpflichtungen aufmerksam zu machen. Es hätte wohl auch nichts genützt. Doch der Zwischenfall mit Sam, dem Automechaniker, verdeutlicht eine weitverbreitete Verwechslung. Wenn Sam das Auto beim Fummeln an der Lenksäule repariert hätte, so hätte ich ihm, meinte er, die 50 Dollar geschuldet. Einverstanden. Allerdings hätte ich ihm das Geld geschuldet, weil er eine zu honorierende Leistung erbracht hatte – das Auto wäre repariert gewesen. Und weil ich ihm etwas schuldete, folgerte er, ich müsse (stillschweigend) eingewilligt haben, ihn zu beauftragen. Diese Folgerung ist aber falsch. Sie unterstellt zu Unrecht, dass jeder Verpflichtung eine Abmachung vorausgegangen sein muss – eine Art Vertragsabschluss. Sie übersieht die Möglichkeit, dass eine Verpflichtung auch ohne Übereinkunft zustande kommen kann. Hätte Sam mein Auto repariert, wäre ich ihm etwas schuldig gewesen. Es wäre unfair gewesen, ihm einfach nur zu danken und davonzufahren. Das bedeutet aber nicht, dass ich ihn zuvor beauftragt hätte.
Wenn ich die Geschichte meinen Studenten erzähle, meinen die meisten, angesichts der Situation hätte ich Sam die 50 Dollar nicht geschuldet. Viele begründen diese Ansicht jedoch anders als ich. Sie sagen, da ich Sam nicht ausdrücklich beauftragt hätte, sei ich ihm auch nichts schuldig – selbst dann nicht, wenn er das Auto repariert hätte. Jede Bezahlung wäre ein Akt der Großzügigkeit gewesen – eine Art Trinkgeld, keine Verpflichtung. Sie vertreten die Ansicht, dass eine Vereinbarung zwingend nötig sei, um einen Anspruch zu begründen.
Trotz unserer Neigung, in jeden moralischen Anspruch eine vorhergegangene Abmachung hineinzulesen, ist es schwer, unser moralisches Leben zu verstehen, ohne den Imperativ der Reziprozität, der Gegenseitigkeit, zu berücksichtigen. Sehen wir uns einen Ehevertrag an. Nehmen wir an, ich entdecke nach zwanzig Jahren ehelicher Treue meinerseits, dass meine Frau ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte. Für meine moralische Entrüstung könnte ich zwei Gründe anführen. Einer bezieht sich auf die Übereinkunft: »Wir hatten doch eine Abmachung. Du hast es geschworen. Du hast dein Versprechen gebrochen.« Der zweite betrifft die Gegenseitigkeit: »Ich war doch immer treu. So etwas habe ich nicht verdient. Das ist keine Art, meine Loyalität zu vergelten.« Und so weiter. Die zweite Beschwerde beruft sich nicht auf die Übereinkunft, und die ist auch nicht erforderlich. Moralisch nachvollziehbar wäre sie sogar dann, wenn wir nie ein Ehegelöbnis abgelegt, sondern all die Jahre nur als Partner zusammengelebt hätten.
Der vollkommene Vertrag
Was sagen uns diese verschiedenen Missgeschicke über die Moralität von Verträgen?
Verträge beziehen ihre moralische Kraft aus zwei verschiedenen Idealen: dem Ideal der Selbstbestimmung und dem der Gegenseitigkeit. Die meisten realen Verträge verkörpern diese Ideale nur unvollständig. Wenn ich es mit jemandem zu tun habe, der sich in einer überlegenen Verhandlungsposition befindet, erfolgt meine Zustimmung vielleicht nicht ganz freiwillig, sondern unter Druck oder im Extremfall sogar unter Zwang. Wenn ich mit jemandem verhandle, der sich besser mit den zu tauschenden Dingen auskennt als ich, ist der Abschluss vielleicht nicht für beide vorteilhaft. Im Extremfall werde ich vielleicht sogar betrogen oder getäuscht.
Im richtigen Leben sind die Menschen stets unterschiedlich. Das heißt, ihre Verhandlungsmacht und Sachkenntnis werden sich niemals gleichen. Und solange das gilt, garantiert eine Übereinkunft als solche noch nicht, dass es sich dabei um eine faire Abmachung handelt. Deshalb sind echte Verträge keine sich selbst genügenden moralischen Werkzeuge. Es ist immer sinnvoll zu fragen: »Ist das überhaupt fair, was da vereinbart wurde?«
Aber stellen wir uns einmal einen Vertrag zwischen Parteien vor, deren Macht und Sachkenntnis gleich sind – ihre Verhandlungspositionen sind absolut gleichwertig, nicht verschieden. Und stellen wir uns vor, es gehe bei diesem Vertrag nicht um eine Klempnerarbeit oder irgendeinen gewöhnlichen Deal, sondern
Weitere Kostenlose Bücher