Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
mit der Übereinkunft, dass die Belohnungen, die diese Talente auf den Märkten einfahren, der Gemeinschaft insgesamt gehören. Behindere die besten Läufer nicht; lasse sie laufen und ihr Bestes geben. Vereinbare aber vorher, dass die Gewinne nicht ihnen allein gehören, sondern mit denen geteilt werden sollten, denen ähnliche Gaben fehlen.
Obwohl das Unterschiedsprinzip keine gleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen fordert, drückt die ihm zugrunde liegende Theorie eine starke, wenn nicht gar inspirierende Vision von Gleichheit aus:
Das Unterschiedsprinzip bedeutet faktisch, dass man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden. Wer von der Natur begünstigt ist, sei es, wer es wolle, der darf sich der Früchte nur so weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert. Die von der Natur begünstigt Bevorzugten dürfen keine Vorteile haben, bloß weil sie begabter sind, sondern nur zur Deckung der Kosten ihrer Ausbildung und zu solcher Verwendung ihrer Gaben, dass auch den weniger Begünstigten geholfen wird. Niemand hat seine besseren natürlichen Fähigkeiten oder einen besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient. Doch das ist natürlich kein Grund, diese Unterschiede zu übersehen oder gar zu beseitigen. Vielmehr lässt sich die Grundstruktur so gestalten, dass diese Zufälle auch den am wenigsten Begünstigten zugute kommen. 17
Sehen wir uns nun die vier konkurrierenden Theorien der Verteilungsgerechtigkeit an:
Feudal- oder Kastensystem: starre, auf Geburt beruhende Hierarchie
Libertarianisch: freier Markt mit formaler Chancengleichheit
Meritokratie: freier Markt mit fairer Chancengleichheit
Egalitär: Rawls’ Unterschiedsprinzip
Rawls bringt vor, die ersten drei Theorien begründeten distributive Anteile mit rein willkürlichen Faktoren – seien dies nun der Zufall der Geburt, soziale oder wirtschaftlicher Vorteile oder natürliche Begabungen und Fähigkeiten. Allein das Unterschiedsprinzip vermeide es, die Verteilung von Einkommen und Vermögen auf diese Kontingenzen zu gründen.
Obwohl das Argument der moralischen Willkür nicht vom Argument des Urzustands abhängt, ähnelt es ihm in folgender Hinsicht: Beide halten daran fest, dass wir, wenn wir über Gerechtigkeit nachdenken, Zufälligkeiten aller Art ignorieren sollten.
Einwand 1: Anreize
Rawls’ Begründung für das Unterschiedsprinzip zieht zwei wesentliche Einwände auf sich. Erstens: Wie steht es mit Anreizen? Wenn die Begabten nur unter der Bedingung von ihren Gaben profitieren können, dass auch die am wenigsten Begünstigen einen Vorteil davon haben: Was ist, wenn sie beschließen, weniger zu arbeiten oder ihre Fähigkeiten gar nicht erst zu entwickeln? Wenn die Steuersätze hoch oder Lohnunterschiede gering sind, würden begabte Leute, die vielleicht Chirurg hätten werden können, dann nicht weniger anspruchsvolle Arbeitsbereiche vorziehen? Würde Michael Jordan dann nicht weniger intensiv an seinem Sprungwurf arbeiten oder seine Karriere früher beenden?
Darauf erwidert Rawls, das Unterschiedsprinzip lasse Einkommensunterschiede um der Anreize willen zu, vorausgesetzt, die Anreize seien notwendig, um das Los der am wenigsten Begünstigten zu verbessern. Vorstandsvorsitzenden mehr zu bezahlen oder die Besteuerung Wohlhabender zu verringern, um das Bruttoinlandsprodukt zu steigern, würde nicht genügen. Wenn die Anreize aber ein Wirtschaftswachstum erzeugen, das den Armen ein besseres Leben ermöglicht als bei einer egalitäreren Struktur, dann sind sie nach dem Unterschiedsprinzip erlaubt.
Von besonderer Bedeutung ist hier, dass es einen Unterschied macht, ob Lohndifferenzen mit der Notwendigkeit von Anreizen begründet werden oder ob man sagt, die Erfolgreichen hätten ein moralisches Anrecht auf eine höhere Bezahlung. Rawls zufolge sind ungleiche Einkommen nur insofern gerechtfertigt, als sie Anstrengungen wachrufen, die letztlich auch den Benachteiligten zugutekommen, nicht aber, weil Vorstandsvorsitzende oder Sportstars es verdienen, besser bezahlt zu werden als Fabrikarbeiter.
Einwand 2: Anstrengung
Damit kommen wir zu einem zweiten, schwerer wiegenden Einwand gegen Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit: Wie steht es mit dem persönlichen Einsatz? Rawls verwirft die meritokratische Theorie der
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