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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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Gerechtigkeit mit der Begründung, die Menschen seien für ihre natürlichen Gaben nicht selbst verantwortlich. Aber wie verhält es sich mit der Arbeit, die man darauf verwendet, seine Gaben zu kultivieren? Bill Gates hat lange und hart daran gearbeitet, Microsoft zu einer erfolgreichen Firma zu machen. Michael Jordan verwandte unendlich viele Stunden darauf, seine Geschicklichkeit im Basketball zu verbessern. Verdienen sie nicht die Belohnungen, die ihre Anstrengungen einbringen – ungeachtet ihrer Talente und Gaben?
    Auf solche Einwände erwidert Rawls, dass auch die Fähigkeit, sich anzustrengen, das Ergebnis einer günstigen Erziehung sein könne. »Selbst die Bereitschaft zum Einsatz, zur Bemühung, die im gewöhnlichen Sinn verdienstvoll ist, hängt noch von günstigen Familienumständen und gesellschaftlichen Verhältnissen ab.« 18 Wie andere Erfolgsfaktoren werde auch unsere Fähigkeit zur Selbstdisziplin durch Zufälligkeiten beeinflusst, für die wir selbst nichts könnten. Es dürfte auf der Hand liegen, »dass der Einsatz, zu dem jemand bereit ist, von seinen natürlichen Fähigkeiten und den ihm offenstehenden Möglichkeiten abhängt. Die Begabteren werden unter sonst gleichen Umständen mehr gewissenhaftes Bemühen an den Tag legen (…).« 19
    Wenn ich meine Studenten mit Rawls’ Argumentation zur Arbeitsmoral konfrontiere, protestieren viele energisch. Sie sagen, ihre Erfolge einschließlich der Zulassung für Harvard seien das Ergebnis der eigenen harten Arbeit und nicht moralisch willkürlichen Faktoren geschuldet, auf die sie keinen Einfluss hätten. Eine Theorie der Gerechtigkeit, die nahelegt, dass wir die Belohnungen für unsere Anstrengung moralisch nicht verdienen, betrachten sie mit Misstrauen.
    Im Anschluss an die Debatte führe ich regelmäßig eine nichtrepräsentative Umfrage durch. Ich verweise darauf, dass Psychologen behaupten, die Reihenfolge der Geburt habe Einfluss auf die Neigung, sich anzustrengen – etwa um in Harvard aufgenommen zu werden. Die Erstgeborenen würden angeblich eine stärkere Arbeitsmoral an den Tag legen, mehr Geld verdienen und auch sonst erfolgreicher sein als ihre jüngeren Geschwister. Diese Studien sind umstritten, und ich weiß nicht, ob ihre Befunde zutreffen. Doch zum Spaß frage ich meine Studenten, wie viele von ihnen Erstgeborene sind. Etwa 75 bis 80 Prozent heben die Hand. Das Ergebnis ist bislang bei jeder Umfrage gleich ausgefallen.
    Niemand behauptet, Erstgeborene seien für ihren Status selbst verantwortlich. Wenn aber etwas so Willkürliches wie die Reihenfolge der Geburt unsere Neigung zu harter Arbeit und bewusster Anstrengung beeinflussen kann, dann dürfte Rawls nicht ganz unrecht haben. Selbst unsere Anstrengung kann nicht die Grundlage moralisch gerechtfertigter Meriten sein.
    Die Behauptung, Menschen hätten die aus Anstrengung und harter Arbeit hervorgehenden Belohnungen verdient, ist aus einem weiteren Grund fragwürdig: Obwohl Verfechter der Meritokratie oft die Vorzüge der Anstrengung anführen, glauben sie nicht wirklich, dass Anstrengung allein die Grundlage von Einkommen und Wohlstand sein sollte. Nehmen wir zwei Bauarbeiter. Einer ist muskulös und kräftig und kann pro Tag vier Wände hochziehen, ohne in Schweiß auszubrechen. Der andere ist dürr und schwach und kann höchstens zwei Ziegelsteine auf einmal tragen. Obwohl er sehr hart arbeitet, braucht er eine Woche, um zu erledigen, was sein muskulöser Kollege locker an einem Tag schafft. Kein Vertreter der Meritokratie würde sagen, der schwache, aber schwer schuftende Arbeiter verdiene eine höhere Bezahlung als der starke, weil er sich mehr anstrenge.
    Oder nehmen wir Michael Jordan. Gut, er hat hart trainiert. Doch manche weniger begabten Basketballspieler trainieren noch härter. Niemand würde behaupten, sie hätten als Belohnung für die endlosen Stunden in der Turnhalle einen besseren Vertrag verdient als Jordan.
    Demnach ist es eigentlich die Leistung, die nach Ansicht des Meritokraten belohnt werden sollte. Ob wir für unsere Arbeitsmoral nun selbst verantwortlich sind oder nicht – unsere Leistung hängt zumindest teilweise von natürlichen Begabungen ab, auf die wir keinen Einfluss haben.

Was uns zusteht – und was nicht
    Wenn Rawls’ Argument über die moralische Beliebigkeit von Begabungen zutrifft, führt das zu einem überraschenden Schluss: Verteilungsgerechtigkeit hat nichts damit zu tun, dass wir nach unseren moralischen Verdiensten belohnt

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