Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
werden.
Er räumt ein, dass diese Schlussfolgerung unserer Intuition widerspricht: »Der gemeine Verstand neigt zu der Auffassung, dass Einkommen und Vermögen und die Güter des Lebens überhaupt gemäß dem Verdienst verteilt werden sollten. Gerechtigkeit ist Glück nach Maßgabe der Tugend (…). Doch die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness lehnt diese Vorstellung ab.« 20
Rawls untergräbt die meritokratische Ansicht, indem er ihre Grundvoraussetzung in Frage stellt: Mit der Abschaffung der sozialen und wirtschaftlichen Erfolgsbarrieren könne man endlich davon ausgehen, dass die Menschen die Belohnungen, die ihre Talente einbringen, wirklich »verdienen«. Rawls hält dagegen:
Man hat seinen Platz in der Verteilung der natürlichen Gaben ebenso wenig verdient wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft. Ob man den überlegenen Charakter, der die Initiative zur Ausbildung der Fähigkeiten mit sich bringt, als Verdienst betrachten kann, ist ebenfalls fraglich; denn ein solcher Charakter hängt in erheblichem Maße von glücklichen familiären und gesellschaftlichen Bedingungen in der Kindheit ab, die man sich nicht als Verdienst anrechnen kann. Der Begriff des Verdienstes ist hier nicht am Platze. 21
Wenn es bei der Verteilungsgerechtigkeit nicht darum geht, moralische Verdienste zu belohnen: Heißt das, dass Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, keinerlei Anspruch auf die Belohnungen haben, die sie für ihre Anstrengung erhalten? Das nun wieder auch nicht. Rawls macht hier einen wichtigen, aber subtilen Unterschied – und zwar zwischen moralischen Verdiensten und den legitimen Erwartungen, die sich auf ein Anrecht gründen. Der Unterschied: Anders als der Anspruch, der sich auf ein Verdienst beruft, kann ein Anrecht nur entstehen, sobald bestimmte Spielregeln eingeführt sind. Es sagt uns nichts darüber, welche Regeln gelten.
Der Konflikt zwischen Verdienst und Anrecht zieht sich implizit durch viele unserer hitzigsten Debatten über Gerechtigkeit – etwa wenn es heißt, höhere Steuertarife für Wohlhabende würden ihnen etwas vorenthalten, was ihnen moralisch zustehe. Oder: Die Berücksichtigung rassischer und ethnischer Vielfalt als Faktor bei der Hochschulzulassung nehme Anwärtern mit glänzendem Abiturzeugnis einen Vorteil, den sie moralisch verdient hätten. Andere sagen: Nein – die Leute verdienen diese Vorteile nicht aus moralischen Gründen; wir müssen zuerst beschließen, welche Spielregeln (Steuertarife, Zulassungskriterien) gelten sollen. Erst dann können wir sagen, wer ein Anrecht worauf hat.
Nehmen wir den Unterschied zwischen einem Glücksspiel und einem Geschicklichkeitsspiel. Angenommen, ich spiele in einer Lotterie. Wenn meine Zahlen gezogen werden, habe ich ein Anrecht auf meinen Gewinn. Ich kann jedoch nicht sagen, ich hätte es verdient zu gewinnen, weil jede Lotterie ein Glücksspiel ist. Gewinn oder Verlust haben nichts mit meiner Tugend oder meiner Geschicklichkeit im Spiel zu tun.
Stellen wir uns nun vor, die Boston Red Sox gewinnen die World Series im Baseball. Danach haben sie ein Anrecht auf den Pokal. Ob der Sieg nun verdient war oder nicht, ist eine andere Frage. Die Antwort hinge davon ab, wie sie gespielt haben. Haben sie wegen eines glücklichen Zufalls gewonnen (beispielsweise durch kritische Fehlentscheidungen des Schiedsrichters)? Oder doch, weil sie wirklich besser gespielt haben als ihre Gegner und dabei all die Fertigkeiten und Vorzüge (gute Würfe, Treffsicherheit, glänzende Abwehr) zeigten, die Baseball in seinen besten Momenten ausmachen?
Anders als beim Glücksspiel kann es bei einem Geschicklichkeitsspiel einen Unterschied geben: Wer nach den Regeln ein Anrecht auf den Gewinn hat, muss den Sieg deshalb noch lange nicht verdient haben. Das liegt daran, dass bei Geschicklichkeitsspielen neben dem Glück auch die Performance und das Können eine Rolle spielen.
Rawls bringt vor, bei Verteilungsgerechtigkeit gehe es nicht darum, Vorzüge oder moralische Verdienste zu belohnen, sondern darum, die legitimen Erwartungen zu erfüllen, die sich aus den gesellschaftlichen Spielregeln ergeben. Sobald die Prinzipien der Gerechtigkeit die Regeln der sozialen Zusammenarbeit festgelegt haben, haben die Menschen ein Anrecht auf die Leistungen, die ihnen nach diesen Regeln zustehen. Wenn aber umgekehrt das Steuersystem dann von ihnen verlangt, dass sie einen Teil ihres Einkommens abgeben, um den Benachteiligten zu helfen, dürfen sie sich
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